„Seife dürfte eigentlich reichen“

„Was ist ein Vogelkot?“, fragt das Mädchen. „Vogelkacka“. Sie kichert. Wie eklig! Wer würde das denn anfassen?

AUS POTSDAM UND BERLIN HEIKE HAARHOFF

Professor Doktor Franz Conraths ist schon da, beinahe eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn an diesem Sonntagmorgen in Potsdam. Seine Statistiken zu weltweiten Pandemien seit 1918 sind geordnet, die traurigen Fotos todkranker Hühner und Schwäne eingescannt, die rot gepunktete Deutschlandkarte mit den neuen Vogelgrippe-Fällen vom Wochenende aktualisiert. Es gibt nichts weiter zu tun. Franz Conraths ist einfach da.

Er ist da, als das ängstlich dreinschauende Rentnerpaar einen Platz sucht. „Kommen Sie weiter nach vorn“, rät er, „ich beiße nicht.“ Dem weißhaarigen Herrn schüttelt er die Hand. Einer jungen Frau, die sich mit beiden Händen an ihren Kinderwagen klammert, lächelt er zu. Als er um Punkt elf Uhr zu sprechen beginnt über die Gefahren der Vogelgrippe für Mensch und Tier, ist die Stimmung im Alten Rathaus zu Potsdam nahezu heiter.

Es ist dies seit Ausbruch der Vogelgrippe in Deutschland die erste öffentliche Veranstaltung mit einem Wissenschaftler des Friedrich-Löffler-Instituts für Tiergesundheit. Das untersucht bundesweit alle verdächtigen verendeten Vögel auf das aggressive Virus H5N1 und hat damit so etwas wie die Deutungshoheit über die Geflügelpest in Deutschland gewonnen. Conraths, der 49-jährige Vizepräsident des Instituts, schickt Risikobewertungen an die Bundesregierung. Er berät sie, er empfiehlt Schutzmaßnahmen und drängt zuweilen zum unverzüglichen Agieren. „Entwicklung von Handlungsoptionen“ nennt er das bescheiden.

Sein Auftritt in Potsdam gehört nicht zu diesen Handlungsoptionen. Der Termin war seit bald einem Jahr geplant, die Universität Potsdam bietet regelmäßig Ringvorlesungen für Laien zu populärwissenschaftlichen Themen an. Zufällig fällt er nun in die Hochphase der Angst um Ansteckungsgefahren. 33 Prozent der Deutschen befürchten laut einer Forsa-Umfrage, dass sich Menschen mit dem Virus anstecken könnten, im Internet werden in Vogelgrippe-Foren Fluchtwege im Falle einer Pandemie diskutiert, Ebay versteigert Tamiflu, Großhändler von Schutzkleidung beklagen, der Markt sei leer gekauft. Entsprechend groß hat die Uni den Saal reservieren lassen, 200 Menschen könnten Platz finden. Erstaunlicherweise aber kommen nur knapp 60. Und deren Sorgen sind vergleichsweise maßvoll, als sie sie denn loswerden dürfen nach mehr als einer Stunde Vortrag über Art und Beschaffenheit des Virus, das Conraths, der Tierarzt, als „Naturereignis“ unter Wildvögeln beschreibt, „gegen das Menschen wenig unternehmen können“.

Eine junge Frau möchte wissen, ob sich ihre Katze draußen anstecken kann, wenn sie bloß einen toten Vogel beschnuppert. „Die Speziesbarriere gegenüber Säugetieren ist hoch, aber gesicherte Daten haben wir nicht“, antwortet Conraths. Ein Rentner fürchtet, dass er auf Vogelkot ausrutschen und sich anstecken könnte. „Seife dürfte reichen“, entgegnet Conraths, „einfach abwaschen, das Virus ist unter Umweltbedingungen nicht sehr stabil.“ Ein anderer hat Angst vor den Krähen und Raben in seinem Garten, weil die doch als Aasfresser bekannt sind. Conraths hat auch dazu keine verlässlichen Daten. Was er aber weiß, ist: „Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Wir werden in den nächsten Wochen eine Verbreitung der Geflügelpest über ganz Deutschland erleben und über Deutschland hinaus.“

Er sagt das mit einer Stimme, die im Radio Hörspiele erzählen könnte, sie klingt angenehm und seriös, und vielleicht trägt das dazu bei, dass sich kein Widerstand regt im Publikum gegen solche Szenarien. Aber wogegen sollte man auch protestieren? Gegen Conraths’ Ehrlichkeit? Dagegen, dass er darauf hinweist, dass die Vogelgrippe zuallererst und bis auf weiteres eine Krankheit unter Wildvögeln ist, deren Zugrouten man wohl schlechterdings unterbinden kann? Dass er „zu bezweifeln wagt, dass wir das Geflügel ab Ende April wieder rauslassen“? Dass er nicht verhehlt, dass es unter Wissenschaftlern die Befürchtung gibt, dass sich das Virus adaptieren und dann von Mensch zu Mensch übertragen werden könnte, dieses oder ein anderes Vogelgrippevirus, Zeitpunkt und Ort unbekannt? Dagegen, dass er das alles so offen anspricht?

Im Saal ist es sehr still, als er fertig ist. Aber die Stille ist nicht Furcht einflößend. Wenn man sich in etwa vorstellen kann, was im schlimmsten Fall auf einen zukommen könnte, wirkt das Risiko plötzlich überschaubarer, kalkulierbarer. Beinahe freundlich. „Wir müssen lernen, damit zu leben“, sagt Conraths.

Lernen, damit zu leben. Ein orange-weißes Baustellenband umflattert das Sperrgebiet. Vor dem Stall, aus dem die Gänse Agathe und Paul, die fünfzehn schuleigenen Hühner, die Pekingente und die gewöhnlichen Teichenten jetzt nicht mehr herausdürfen, steht eine Wanne mit Desinfektionsmittel. An einem Holzpfosten sind mit Heftzwecken Merkblätter mit Informationen des Robert-Koch-Instituts befestigt. Aber die Schülerinnen und Schüler der Grundschule im Grünen in Berlin-Weißensee wissen auch so, warum sie einen Teil der Knirpsenfarm, wie ihr Schulbauernhof heißt, nicht mehr betreten dürfen. „Wir“, belehrt der neunjährige Leon Besucher bei einem Gang über den Hof, „müssen aufpassen, dass unsere Vögel nicht krank werden“.

Aufpassen, dass unsere Vögel nicht krank werden. Er sagt das wirklich so, seine Sorge gilt zuallererst den eingesperrten Gänsen Agathe und Paul, den Hühnern und den Enten. Wenn man die Fragen der Potsdamer Diskussionsrunde nach verlässlichen Daten zur Ansteckungswahrscheinlichkeit für Katzen und Menschen noch im Ohr hat, klingt dieser Satz eines neunjährigen Jungen wohltuend.

Er rückt die Dimensionen zurecht. Die Vogelgrippe ist in Deutschland bislang eine Krankheit unter Wildvögeln. Hier in Berlin ist bisher kein Fall bekannt. Dass sich die Grundschule im Grünen trotzdem zu der Quarantäne entschlossen hat, hat einen Grund: Je mehr Personen Zutritt zum Stall haben, desto größer die Gefahr, dass eine von ihnen zufällig das Virus einschleppt. Daher dürfen nur noch zwei Tierpfleger die Vögel füttern, die Eier suchen, den Stall sauber machen. Aufgaben, die in seuchenfreien Zeiten die Schüler übernehmen.

Natürlich sei das eine Einschränkung, eine erhebliche sogar, sagt die leitende Tierpflegerin Manuela Hauser. Sie ist 32 Jahre alt, trägt strubbelige Kurzhaarsträhnchen, einen Anorak und fünf Ringe je Ohr, mindestens. Der Bauernhof ist das Herz der Schule. Was also, wenn die Stallpflicht dauerhaft werden sollte? Was, wenn sie ausgedehnt wird auf die fünf Schulkatzen, möglicherweise gar auf die beiden Schweine, die bisher frei über das gesamte Gelände streunen dürfen? Wie sollen Kinder dann noch den natürlichen Umgang mit den Tieren erfahren, wie die Tiere weiterhin als Partner begreifen, nicht als Gefahr? Abgesehen davon, dass die vorhandenen Ställe viel zu klein sind, um Tiere ständig darin zu halten.

Manuela Hauser bespricht diese Fragen mit den Grundschülern, sie will es, und sie muss es. Die Order kommt von ganz oben. Der Berliner Schulsenator hat alle Kindergärten und Schulen des Landes per Rundschreiben angewiesen, kindgerecht über die Vogelgrippe, Schutz- und Hygienevorschriften zu informieren, „natürlich ohne Panik zu verbreiten“, wie sich sein Sprecher zu versichern beeilt.

Es geht ja nicht bloß um das Vermitteln von Kenntnissen über die Krankheit oder Vorsichtsmaßnahmen im Umgang mit lebenden oder toten Tieren. Es geht darum, dass man sich an den Gedanken wird gewöhnen müssen, dass wegen der Vogelgrippe Lebensqualität eingebüßt wird, womöglich über einen langen Zeitraum. Ein Waldkindergarten aus Potsdam, der nicht in der Zeitung genannt werden möchte, sorgt sich um seine Existenz, wenn öffentlich darauf hingewiesen wird, dass die Kinder selbstverständlich weiterhin tagtäglich durch den Wald streifen und am Wasser entlangspazieren, überall dort also, wo das tückische Virus ihnen auflauern könnte. Eine Kindertagesstätte aus dem Berliner Westen erwägt, die Ausflüge an die umliegenden Seen komplett einzustellen.

Also stellt sich Manuela Hauser vor die 3a, in die auch der neun Jahre alte Leon geht, und sagt, dass sie heute sprechen möchte „über das Thema, das ständig in der Zeitung ist. Wisst ihr, was ich meine?“ 25 Arme gehen in die Höhe. „Vogelgrippe“, schallt es zurück. Manuela Hauser hat es leicht, sie muss den acht- und neunjährigen Schülern nicht viel erklären. Die meisten von ihnen wissen längst aus dem Fernsehen und von ihren Eltern, dass auf Rügen, am Bodensee, in Mannheim, Bayern, Brandenburg und Niedersachsen Schwäne, Wildenten, Greifvögel und eine Katze gestorben sind. Sie wissen, dass sie tote Vögel nicht anfassen dürfen.

„Und Vogelkot auch nicht, sagt meine Mama“, ruft ein Mädchen. „Was ist denn das, ein Vogelkot?“, fragt ihre Tischnachbarin, und Manuela Hauser übersetzt: „Vogelkacka“. Die Schülerinnen sehen sich an und kichern. Vogelkacka? Wie eklig! Wer wäre denn so blöd und würde so etwas freiwillig mit bloßer Hand anfassen?

Was eine Grippe ist, können sie sich vorstellen. „Ganz schlimmer Husten und Schnupfen“, sagt ein Mädchen. „Ganz hohes Fieber“, sagt ein Junge. „So was wie Krebs, nur dass man schneller stirbt“, sagt Leon. Dass die Vögel auf ihrem Schulbauernhof „so etwas“ auf keinen Fall kriegen dürfen, darüber sind sich alle einig, und deswegen ist es für sie auch keine Frage, dass die Vögel im Stall bleiben müssen, „und zwar bis 2009“, glaubt ein Mädchen. „Auch wenn wir sie jetzt leider nicht mehr streicheln dürfen.“ Und auch, wenn die Vögel im Stall, wie ein Junge festgestellt hat, „weniger Eier legen als normal“.

Manuela Hauser leitet die Diskussion geschickt, immer stellt sie die Tiere in den Mittelpunkt, nicht die Menschen. Gegen Ende der Stunde kommt sie dann doch, die Frage: „Ist das Grippevirus tödlich für uns?“, will ein blonder Junge an einem der hinteren Tische wissen. Er fragt das sachlich und mit einer Unbefangenheit, die Erwachsene heikel finden. „In China sind Menschen gestorben“, sagt Manuela Hauser, „es kann also passieren.“ Die Kinder hören ihr ganz ruhig zu. „Aber ich gehe davon überhaupt nicht aus im Moment.“ Der Junge nickt. Es ist eine Information. Er wird damit leben.