theorie und technik
: Beleidigungen verboten: Über die unfassbare Karriere, die das religiöse Empfinden derzeit erfährt

Während sich der Staat privatisiert, veröffentlicht sich die Zivilgesellschaft: Man spricht als Frau, als Homosexueller, als religiös Empfindender

Im Zuge des Karikaturenstreits hat der Großimam der einflussreichen Al-Azhar-Universität in Kairo ein weltweit gültiges Verbot von Beleidigung religiöser Empfindungen vorgeschlagen. Dazu sollten führende Vertreter der Weltreligionen, darunter er selbst und Papst Benedikt XVI., einen Gesetzestext verfassen. Ein in jeder Hinsicht skurriler Einwurf.

Allein die Vorstellung, Religionsführer könnten einen Gesetzestext verfassen, ist wie ein Nachhall aus fernen Priesterherrschaften. Interessant ist auch der ökumenische Zugang, der offensichtlich keine interreligiösen Beleidigungen vorsieht, sondern einzig solche seitens säkularisierter Individuen. Am skurrilsten aber ist, wie dieser Vorschlag des Großimams, gerade in seinem völligen Verkennen der westlichen Welt, unbeabsichtigt eine Wahrheit unserer Gegenwart sichtbar macht.

Um das zu verstehen, sollten wir uns vor Augen halten, welch unfassbare Karriere der Begriff des religiösen Empfindens in den letzten Wochen erfahren hat. Er hat unbemerkt die vordere Bühne der Öffentlichkeit eingenommen. Die Aufnahme, die er dort gefunden hat, ist umso bemerkenswerter, als sich diese Öffentlichkeit ja gerade durch die Eliminierung aller Subjektiväten konstituiert hat. Der italienische Philosoph Paolo Flores d’Arcais hat diesem Auftritt seinen jüngsten Text gewidmet. Darin zeigt er das religiöse Empfinden in seiner Rolle als Gegenspieler der Freiheit: Meine Freiheit, schreibt er, soll ihre Grenze nicht an deiner Empfindsamkeit haben. Letztere würde sich aber – quasi durch die Hintertüre kommend – Eintritt verschaffen, indem sie als Mahnung in den Einzelnen eindringt, dessen Verantwortungsethik mobilisiert und so ihre Wirkung als Selbstzensur entfaltet. D’Arcais erteilt den Aspirationen der religiösen Empfindsamkeit auf eine Position im öffentlichen Raum eine Abfuhr. Denn der Glaube sei in der Sphäre der Öffentlichkeit kein Absolutes, da diese in der Demokratie „unantastbar pluralistisch“ sei.

Sosehr d’Arcais in ethischer Hinsicht zuzustimmen ist, so verfehlt er in politischer Hinsicht eine wesentliche Veränderung. Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und zivilgesellschaftlicher Privatheit, die seiner Argumentation zu Grunde liegt, hat seit längerem eine tiefgreifende Verschiebung erfahren. Im Gegensatz zum früheren Grundsatz, nach dem man sich seiner partikularen Besonderheiten entledigen musste, um die Sphäre der Öffentlichkeit zu betreten, vollzieht man diesen Schritt heute gerade im Namen seiner privaten Identität. Man erhält öffentliche Aufmerksamkeit gerade für seine Singularität, als solche wird man Teil des gesellschaftlichen Ganzen: als Frau, als Homosexueller und nun eben als religiös Empfindender. Die Zivilgesellschaft „veröffentliche sich“, während der Staat „sich privatisiere“, lautete der Befund des französischen Demokratietheoretikers Marcel Gauchet. Unbeabsichtigt hat der Imam diese Veränderung zur Darstellung gebracht.

Dies hat große Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs unserer Gesellschaften. So werden die spezifischen Forderungen nicht mehr in eine politische Sprache übersetzt, etwa zu einem Programm formuliert. Es geht eher darum, mittels einer eindeutig nichtpolitischen Sprache, einer „Sprache der ethischen Forderungen“ (Gauchet), auf das Politische Einfluss zu nehmen. So sieht sich die Öffentlichkeit zunehmend mit Werten konfrontiert, die sie leiten sollen.

Genau diese Bewegung konnte man in letzter Zeit wie in einem Brennglas beobachten. Der religiös Empfindsame hat seine Forderung nach Anerkennung nicht in eine politische Sprache gefasst, die in etwa lauten müsste, die Stellung von Migranten zu verbessern. Er hat sich vielmehr in seinen privaten religiösen Gefühlen „veröffentlicht“ und als solcher Bestätigung gesucht. Man muss also sehen, dass dieser Diskurs, dem d’Arcais so entschieden entgegentritt, nur deshalb „greifen“ konnte, weil er auf eine Disposition unserer veränderten Öffentlichkeit traf, die gerade solchen Positionen Vorschub leistet. Dieser Diskurs war gewissermaßen „erwartet“. Insofern reicht es nicht mehr aus, sich dagegen mit dem Konzept eines öffentlichen Raumes zur Wehr zu setzen, das längst seine Gültigkeit verloren hat.

Den Imam aber, mit seiner Forderung einer gesetzlichen Festschreibung – die sich ja der Rubrik „Theokratie“ verdankt –, würde sein eigener Vorschlag einholen. Denn der rechtliche Schutz des einzelnen Gläubigen in seinen subjektiven Gefühlen hätte zur Folge, dass sich seine Schäfchen individualisieren.

ISOLDE CHARIM