Träumer, Sprecher, Zampano

Der Pop gewordene Traum der linken HipHop-Kritik, Gramscis organischer Intellektueller als Rapper: Am Sonntag spielte der amerikanische Superstar Kanye West in der Berliner Columbiahalle und bezauberte mit Streichern, Harfe und linkischen Posen

Kanye West ist der einflussreichste HipHop-Star der Gegenwart: Erstaunlich, auf der Bühne wirkter wie aus dem Studio gefallen

VON TOBIAS RAPP

Nein, ein großer Performer ist er nicht, der Rapper Kanye West, der am Sonntagabend in der ausverkauften Berliner Columbiahalle eines seiner beiden Deutschlandkonzerte gab. Aber sonst stimmte alles. Oder hat man sonst schon mal eine HipHop-Show gesehen, die auf das meiste verzichtet, was eine solche Veranstaltung sonst ausmacht? Keine kleine Band, keine Homies, die zur Unterstützung mitschreien, kein Say-Ho-Getue, keine Breakdance-Einlage. Und die stattdessen mit einem DJ, zwei Sängern, einem Streichsextett und einer Harfenistin anrückt?

Ein ungewöhnliches Set-Up für einen, nun ja, ungewöhnlichen Rapper. Denn Kanye West mag einer der erfolgreichsten HipHop-Künstler der Gegenwart sein, an Einfluss dürfte ihm gegenwärtig keiner auch nur nahe kommen. Was erstaunlich ist angesichts der Tatsache, dass er sich die Ochsentour von der Straße auf die kleine Bühne ins Vorzimmer zum großen Plattenvertrag schlicht sparen konnte. Er war einer der erfolgreichsten Produzenten des HipHop, bevor er überhaupt nur eine eigene Platte veröffentlicht hatte – und so wirkte er auch auf der Bühne. Mit seinen linkischen Bewegungen und seiner Weigerung, mit dem Publikum die üblichen Say-Ho-Spielchen zu spielen, kam er einem eher vor, als sei er direkt aus dem Studio auf die Bühne gefallen. Dass es trotzdem ein wunderbares Konzert war, lag daran, dass er all seine anderen Rollen so vollkommen zu verkörpern vermag. Den Träumer und den großen Zampano, den Auf-dem-Boden-gebliebenen und den Superstar, den Oberschüler wie den Sprecher der Community.

Tatsächlich, und das dürfte das Erstaunlichste sein: Kanye West ist der Pop gewordene Traum des HipHop-Intellektuellen, Gramscis organischer Intellektueller als Rapper. Und zwar nicht erst, seit er bei den Grammy-Verleihungen des vergangenen Jahres mit seinem „George Bush doesn’t care for black people“-Einzeiler das miserable Krisenmanagement der US-Regierung nach der Flutkatastrophe von New Orleans kommentierte. Er trat eine wochenlange Diskussion los und setzte HipHop als genau das Werkzeug zur gesellschaftlichen Hegemoniebildung ein, als das es seit Jahren durch die Fantasie linker Popkritiker geistert. Schon auf seinem fantastischen Debütalbum „The College Dropout“ gelang es ihm, entlang eines losen Konzepts die Probleme des amerikanischen Bildungssystems mit denen der Verteilungsgerechtigkeit zu verbinden, den christlichen Glauben mit dem HipHop-Geschäft, den War On Terror mit der mangelnden Selbstwertschätzung der Afroamerikaner. Und all das mit einer Popsensibilität, wie es sie seit Puff Daddy im HipHop nicht mehr gegeben hat.

Auch in der Columbiahalle fiel auf, wie sehr West die verschiedenen Schulen des HipHop verbindet: Seine Beats haben einen ähnlich hohen Druck, wie man ihn von den Neptunes kennt, anders als deren Cyberfunkentwürfe zieht es West aber zurück zur Black-Music-Kernkompetenz, zur Wärme des Soulsamples, wie es auch schon Marley Marl oder DJ Premier ins Zentrum ihrer Musik gestellt haben. Wo diese aber noch Plattensammler waren, ist Kanye West Kind der Internet-Tauschbörsen: die Hookline eines Hits wie Shirley Basseys „Diamonds Are Forever“ wird genauso verwurstet wie ein obskurer Etta-James-Song. Und wenn gar nichts mehr geht, dann müssen „Sweet Dreams“ von den Eurythmics dran glauben. Da ist er dann gar nicht so weit entfernt von irgendwelchen Mash-Up-Kids aus der europäischen Technoszene.

Diese Vielseitigkeit Wests zeigt sich allerdings nirgends so deutlich wie in seinen Lyrics. Es dürfte keinen Rapper geben, der sich eine so breit gefächerte Subjektivität erlauben kann wie West – der die Gabe hat, individuelle Schwächen in Stärken umwidmen zu können. Man nehme „Spaceship“, einen der Höhepunkte seines Konzerts. Ein Stück, in dem er die reale Ohnmacht eines Reime schreibenden Gap-Kassierers auf der Spätschicht mit den Allmachtsfantasien von dessen imaginärer Rapperkarriere verbindet, um das Ganze mit dem alten Afrofuturismus-Motiv des Raumschiffs zu grundieren, das einen aus all dem Übel erlösen und in den Himmel tragen wird. Das ist selten im HipHop, diesem ewigen Selbstbehauptungskampf des afroamerikanischen Mannes.

So zogen einen die Streicher in ihre butterweichen Wärmeflächen, Kanye dirigierte das „Eleanor Rigby“-Intro, tanzte vor einer Leinwand umher, auf der schöne Frauen, Martin Luther King oder Sterne zu sehen waren. Mit „Through The Wire“, dem Song über den Autounfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, entließ er einen in die Nacht.