„Das kommt öfter vor“

Ausgerissene Zehennägel, Schnitte im Gesicht, der Selbstmord eines als „suizidal“ eingestuften Untersuchungshäftlings und eine Vergewaltigung, die nie öffentlich wurde: Wie sicher ist die JVA?

Bremen taz ■ In der Justizvollzugsanstalt Oslebshausen kam es 2004 zu einer schweren Vergewaltigung eines Häftlings durch einen Mithäftling. Diesen Vorwurf erhob der Grünen-Abgeordnete Jan Köhler gestern auf einer Sondersitzung des Rechtsausschusses. Anstaltsleitung und Justizressort hätten den Vorfall wissentlich verschwiegen. „Es ist die Pflicht des Ressorts, die Ausschussmitgleider über solche Vorfälle zu informieren“, unterstrich Köhler.

Recherchen der taz bestätigen den von Köhler vorgetragenen Verdacht. Demnach wurde ein erwachsener Häftling im Jahr 2004 in der Dusche von einem Mithäftling vergewaltigt, er selbst sowie seine Familie bedroht. Die Anstalt, so hieß es, habe das Problem damals im Sinne des Opfers entschärft, das für den Rest seines Gefängnisaufenthalts auf die Krankenstation verlegt wurde – unerreichbar für seine Peiniger. Außerdem seien alle nötigen Ermittlungen eingeleitet worden. Insidern zufolge sind Übergriffe unter Häftlingen keine Seltenheit. „Das kommt öfter vor“, heißt es hier. Haupttatort sei die Dusche.

Das Justizressort bestätigte gestern Abend, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im März 2004 einem Vergewaltigungsverdacht nachgegangen seien. Allerdings hätten sich das angebliche Opfer in Widersprüche verstrickt und die Beschuldigten die Tat bestritten, Zeugen habe es keine gegeben. Das Verfahren sei wenig später eingestellt worden – weswegen der Rechtsausschuss nicht informiert worden sei.

Anlass der Sondersitzung des Ausschusses gestern war eigentlich der Ende Februar bekannt gewordene mutmaßliche Fall von Folter unter Häftlingen gewesen. Ein türkischer Gefängnisinsasse hatte am 22. Februar beim Anstaltsarzt um Schmerzmittel für seinen Fuß gebeten. Ihm waren einige Tage zuvor die Nägel der drei mittleren Zehen herausgerissen worden – laut seiner eigenen Aussage von ihm selbst. Experten halten diese Version wegen der extremen Schmerzen allerdings für unwahrscheinlich. Eine Misshandlung durch Mithäftlinge, so SPD-Mann Wolfgang Grotheer zur taz, sei daher die „nächstliegende Vermutung“.

Entsprechende Ermittlungsergebnisse konnte die Staatsanwaltschaft dazu gestern, zwei Wochen nach dem Arztbesuch des Häftlings, allerdings noch keine vorweisen – trotz einer ausgesetzten Belohnung von 3.000 Euro. Hinweise auf mögliche Täter erhofft sie sich nun von DNA-Spuren an möglichen Tatwerkzeugen, die sie in verschiedenen Zellen beschlagnahmt hat. Das Ergebnis dieser Untersuchungen liegt noch nicht vor. Die Vernehmungen der Gefangenen dauerten an, hieß es. Außerdem seien zwei Kripobeamte als „Profiler“ in der JVA im Einsatz.

Eine Schnittverletzung im Gesicht eines Mithäftlings des mutmaßlichen Folteropfers sorgte gestern für weitere Spekulationen. Köhler sprach von einem „Selbstmordversuch“, der wahrscheinlich in Zusammenhang mit dem Folterfall stehe. Anstaltsleiter Manfred Otto wies diese Vermutung zurück. Es handele sich keinesfalls um einen Selbstmordversuch. Dass der Messerschnitt an der Wange aber mit dem Zehennägel-Ausreißen in Verbindung stehen könnte, wollte das Justizressort gestern nicht ausschließen. Denkbar sei etwa, dass die Selbstverletzung andere Kratzer im Gesicht verbergen sollte, so Lutzebäck.

Kein Versäumnis der Anstaltsleitung sieht das Ressort im Fall des Selbstmordes eines Untersuchungshäftlings Ende Februar. Ein Polizeibeamter hatte den Mann auf dem Aufnahmebogen als „suizidal“ bezeichnet – wer genau und warum, lässt sich Lutzebäck zufolge nicht mehr aufklären. Den Vorwurf Köhlers, dass angesichts dieses Vermerks unbedingt ein Psychologe hätte zu Rate gezogen werden müssen, wies das Justizressort dennoch zurück. Ein Psychologe werde nur auf Anraten des Arztes hinzugezogen, und der habe keinerlei Anzeichen von Selbstmordgefahr festgestellt. SPD und CDU schlugen gestern die Videoüberwachung von Fluren und Gemeinschaftsräumen der JVA vor. Damit könnten Täter zumindest im Nachhinein leichter überführt werden. Köhler forderte dagegen mehr Personal. Technik könne den persönlichen Kontakt der Beamten mit den Häftlingen nicht ersetzen. Armin Simon