„Kirche im Dorf lassen“

Die Fusionsgegner in Berlins WASG haben gewonnen. Die Bundesspitze spricht ihnen den Sieg ab

Klaus Ernst: „Ich weiß nicht, wie 41 Prozent eine Mehrheit sein sollen“

VON ASTRID GEISLER
UND FELIX LEE

Am Spreeufer stehen die zwei obersten Fusionsstrategen von WASG und Linkspartei.PDS und sagen, dass sie wirklich glücklich und erleichtert sind. „Wir gehen davon aus, dass der Spuk jetzt zu Ende ist“, verkündet WASG-Bundesvorstand Klaus Ernst in bester Laune. „Das Ergebnis hat die erhoffte Klarheit gebracht“, pflichtet sein Kollege, der PDS-Fusionsbeauftragte Bodo Ramelow, eifrig bei: „Es gibt keine Mehrheit für einen alleinigen Wahlantritt der Berliner WASG.“ Die herbeigeeilten Reporter tauschen verwunderte Blicke aus. Die Politiker sprechen über die Urabstimmung der Berliner WASG, die einige Kilometer weiter in Prenzlauer Berg ausgezählt worden ist. Dort wurde kurz zuvor das Ergebnis verkündet und ebenfalls interpretiert. Gegenteilig. Als Sieg für die Befürworter eines Berliner Alleingangs.

Doch darüber lassen die Herren jetzt nicht mit sich reden. „Ich weiß nicht, wie 41 Prozent eine Mehrheit sein sollen“, raunzt Ernst. Die beginne erst bei 50 Prozent. Wer das nicht kapiere, der solle „noch mal die erste Klasse besuchen“. Dass relative Mehrheiten auch unterhalb von 50 Prozent möglich sind? Kein Thema für die beiden. „Es wird keine konkurrierenden Wahlantritte geben“, fügt PDS-Mann Ramelow in militärischem Ton hinzu. „Nirgendwo.“

Keine Konkurrenzen? Merkwürdig, dass der Berliner PDS-Landeschef Klaus Lederer zu diesem Zeitpunkt bereits das Gegenteil beteuert: „Wir behandeln die WASG von nun an wie eine normale konkurrierende Partei.“ Maximale Klarheit klingt anders.

In nackten Zahlen liest sich das Ergebnis der Urabstimmung so: Von rund 860 wahlberechtigten Berliner WASG-Mitgliedern haben insgesamt 591 abgestimmt, 527 Stimmen waren gültig. Auf 272 war das Kreuzchen für eine eigenständige Liste der WASG gemacht. Nach Interpretation der Fusionsbefürworter eine Minderheit von 41 Prozent, weil 64 ungültige Stimmen nicht mitgerechnet werden dürften. Nach Lesart der Berliner WASG eine absolute Mehrheit von 51,6 Prozent für den Alleingang.

Entsprechend kämpferisch geben sich die Berliner Fusionsgegner: „Heute hat der Wahlkampf begonnen“, eröffnete Landesvorstandsmitglied Lucy Redler ihre Rede. Mit diesem Ergebnis bestehe die Chance für den Einzug einer sozialen Opposition ins Abgeordnetenhaus: „Wir treten gegen alle Parteien an, die Sozialabbau betreiben.“ Noch im April sollten die Kandidaten gekürt und soll ein Wahlprogramm beschlossen werden. Sie rechne mit einem Wahlergebnis von „5 plus x“.

Das wäre für die Partei bundesweit der GAU. Einen simplen Weg der Schadensbegrenzung gibt es nicht. Immer wieder hat der Bundesvorstand den Quertreibern gedroht, keine weiteren Eskapaden zu dulden. Seither hat sich die Lage stetig zugespitzt – ohne Konsequenzen. Nach dem gestrigen Auftritt bleibt der Parteispitze nur noch die Vorwärtsverteidigung: Sie muss versuchen, die Berliner Meuterer aus der WASG hinauszuwerfen. Die Frage ist nur: Wie? Denn ob es für solche Sanktionen in den entscheidenden Gremien eine Mehrheit gäbe, ist ungewiss. Durchgreifen von oben ist bei vielen WASGlern ebenso verpönt wie die „neoliberale“ rot-rote Landespolitik in Berlin.

Seit dem Regierungseinzug 2001 hat sich die Linkspartei aus Sicht ihrer Kritiker nicht durch „linke“ Politik hervorgetan. Die WASG verübelt der Schwesterpartei zudem, dass die Linkspartei sie beim gemeinsamen Antritt zur Bundestagswahl nur mit einem hinteren Listenplatz abspeiste. Und das war aus Sicht vieler Linker längst nicht die schlimmste Schandtat: Hinzu kommt der Austritt Berlins aus dem kommunalen Arbeitgeberverband, um die Flächentarifbindung im öffentlichen Dienst zu umgehen.

Das erklärt, warum Sanktionen gegen die Berliner für viele WASGler draußen im Land nicht infrage kommen. Erst am Wochenende verabschiedete der WASG-Länderrat, eines der höchsten Parteigremien, mit 21 zu 13 Stimmen ein Papier, das Ramelows Drohungen an die Hauptstadt-WASG verurteilte.

Die Hoffnung der WASG-Bundesspitze ruht nun auf einer zweiten bundesweiten Urabstimmung, die noch bis zum 31. März läuft. Denn hier ist eine Mehrheit für eine Fusion zu erwarten. Was das Votum für den Berlin-Konflikt bringt, ist indes unklar. Der Berliner Landesvorstand der WASG sieht sich nur seiner eigenen Basis verpflichtet.

Sollte der Bundesvorstand der WASG nicht schnell die Aufmüpfigen rauswerfen, bahnt sich an der Spree ein Szenario an, über das Parteistrategen seit Tagen mit Grausen sprechen: Einige fusionsfreundliche Berliner WASGler könnten zu den Abgeordnetenhauswahlen auf der Linkspartei-Liste kandidieren. Das hieße: WASG-gegen-Linkspartei-mit-WASG-Wahlkampf in Berlin. Realsozialistische Trialektik.

Die Verlierer des Spektakels stehen jetzt schon fest. Die Linkspartei in Berlin ist in Umfragen von einst 20 Prozent auf 13 Prozent abgestürzt. Das reicht nicht mehr für eine rot-rote Mehrheit.

Doch über solche Horrorszenarien wollten die glücklichen Fusionsstrategen Klaus Ernst und Bodo Ramelow gestern nicht reden. Niemand werde ihm an diesem schönen Tag irgendwelche Drohungen gegen die Berliner Basis entlocken, sagte der WASG-Spitzenmann. „Dazu gibt’s nichts zu sagen.“ Man werde sich demnächst zusammensetzen und „vernünftig“ über die Zukunft reden: „Man muss doch mal die Kirche im Dorf lassen.“ Genau das hatte Gerhard Schröder am Abend der Auszählung der Bundestagswahl im Herbst auch gesagt. Damals war er noch Bundeskanzler. Heute ist er Privatier.