Zu weit draußen für die Türsteher

Auf die Revolution warten, von der Paranoia träumen: Auf „Tausend kleine Tänze“ klimpert Oliver Twist Kooperation die Kulturindustriethesen auf dem Zwölftonklavier. So klingt der Soundtrack zu einem Aufbegehren, bei dem niemand mitmacht

Mit dem falschen Bein aufgestanden und mitdem anderen schon auf der TanzflächeBei allem Wahnsinn, bei aller Verwirrung ist dieses Album auf jeden Fall: Intelligent Design

VON GUIDO KIRSTEN

Fast zwei Jahre haben diese Aufzeichnungen des Patienten O.T. gedauert. Die ersten Songideen entstanden noch bevor Sänger Thomas Mahmoud mit Von Spar zu einiger Berühmtheit gelangte, inklusive Spex-Cover, Mini-Hype und gefeierten Konzerten. Die Oliver-Twist-Instrumentalisten (in wechselnder Besetzung existiert die Band seit zehn Jahren) gingen erst mal alleine ins Studio. Dort spielten sie einen Großteil des Materials ein, aus dem nun die furiosen „1000 kleinen Tänze“ wurden.

Als Thomas Mahmoud die Stücke hörte, war seine Idee zunächst, einen großen Hörspielsoundtrack daraus zu machen und dementsprechend einen langen Text zu schreiben. Das hört man dem Album auch noch an, bei aller Disparität, die schon die einzelnen Stücke auszeichnet. Schließlich wurde noch sehr viel herumgeschraubt, wurden Teile verschoben, an- dere ersetzt, die Texte den Melodien angepasst und umgekehrt.

So viel Material wurde aufgetürmt, dass sich die Balken biegen und jede Kohärenz zum Flötenkonzert geht. Eine halbe Minute könnte im Takt marschiert werden (wohin, ist keinem klar), wehen schwarzrote Fahnen, bläst der Trompeter zum Sturm auf die Bastille. Dann wechseln jäh die Perspektiven, das Songego sitzt selbst im Turm und guckt sich beim Leiden zu. Aber das ist kein pubertierender Weltschmerz, kein Befindlichkeitschic, sondern handfester Kulturindustrieekel: „Die Korken knallen/ die Gläser klirren/ Im Mittelpunkt eine Stimme/ Deine Wahl/ Facharbeiter im Unterhaltungssektor/ bearbeiten das Material/ Ein Opfer der Notwendigkeit/ Ein Zeichen der Moral“. Das klingt wie das alte Lied, das Adorno auf seinem Zwölftonklavier klimperte. Bei dem sich System auf System reimt und keiner mehr so recht weiß, ob von drinnen ein Weg nach draußen noch drin ist oder umgekehrt, ob man, einmal draußen, nicht lieber wieder reinwill. Und: Ist es möglich, Position zu beziehen gegen die Position?

Bei solchen Dilemmata, das kann man seit John Lennon und John Holloway wissen, hilft erst mal nur eins: schreien. Und das tut der Patient OT nicht zu knapp: „It’s a comfort to be able to cry, rage cleans up the sky.“ Er hofft und hasst und heult und zähneklappert. Er reißt an den Fesseln, schlägt sich den Kopf an Wänden ein, die nicht darum gebeten hatten. Lässt danach die Sonne rein. Kratzt sich im designten Affenkäfig am Arsch. Wartet auf die Revolution und träumt von Paranoia.

Wenn Konfusion Sex ist, ist Herr Mahmoud nymphoman. Und das Schönste: die Musik ist auch so, verzweifelt, verspielt und himmelhoch jauchzend. Mit dem falschen Bein aufgestanden, mit dem anderen schon auf der Tanzfläche. Ein diabolischer Spagat, ein dadaistisches Postemojazzskaelectroclash-Mosaik, das tanzen gehen will, in keine Disco reinkommt und dann auf der Straße Party macht. Draußen jedenfalls. Zu weit draußen für Türsteher, Kulturministerien und deutsche Popzeitungen. Dabei wären Oliver Twist noch vor ein paar Jahren hier so zu Hause gewesen wie die Made im Speck.

Bei der Oliver Twist Kooperation geht es derweil zu wie auf dem Jahrmarkt oder im Godard-Film. Alles wurde irgendwo gefunden, aufgeschnappt, ausgelegt, zusammengewürfelt, hineingepackt. Ein wahrhaft nahrhafter Eintopf mit Zitaten als Zutaten. Zitaten aus Werbeclips, Popsongs oder von Samuel Beckett: Parolen von oder für Häuserwände.

Hätte der liebe Gott mit solchen quergekreuzten Bastarden rechnen können, er hätte sich schon nach dem fünften Tag den Strick genommen. Und das Beste verpasst. Denn bei allem Wahnsinn und Genie, bei aller Verwirrung ist das auf jeden Fall: Intelligent Design! Machte man Musik/Text-Querschnittsrechnungen auf, hierzulande die klügste Platte seit „Reformhölle“ oder „L’etat et moi“ vielleicht. Seit geraumer Zeit jedenfalls. Es lohnt sich also, im kongenial gestalteten Booklet zu blättern und mitzulesen und zu schreien.

Spätestens nach dem dritten Hören wird aus jedem Stück eine Hymne. Die „Tausend kleinen Tänze“ sind Gesang und Abgesang auf Revolten, die dauernd aus verschiedenen Ecken beschrien werden und einfach nicht stattfinden wollen. Der Soundtrack zum großen Aufbegehren, bei dem niemand mitmacht. Zeugnisse der Zerrissenheit, Parolen, die sich selbst durchschauen und doch weiter geschrien werden müssen. Und bei alledem: große Kunst.

Oliver Twist Kooperation: „Tausend kleine Tänze“ (Rewika Records/Alive)