der kommentar
: Ein gastliches Land

Die Solidargemeinschaft Deutschland funktioniert besser, als man denkt: Die Bürger lassen Ihre WLAN-Netze trotz Experten-Greuelpropaganda offen wie ein Scheunentor, jeder darf teilhaben. Die Bereitschaft, mit anderen zu teilen, ist keineswegs verschwunden. Und die netten Netzschnorrer freuen sich

Ein Schweizer Designer, auf Arbeitsbesuch in Berlin, konnte es unlängst einfach nicht fassen: Er saß mit seinem Notebook in einem Hot-Spot mit angeschlossener Kneipe und fand nicht weniger als neun offene WLAN-Netze. Die Kneipe hätte sich also die Einrichtung eines Hot-Spots sparen können, die nichtkommerzielle Gastfreundschaft der umliegenden Mieter reicht völlig aus, um kostenlos ins Internet zu kommen.

Während in Funk und Fernsehen Experten dräuenden Blicks vor Funkwürmern, Viren und Datenklau warnen und zur präzisen Verschlüsselung und Sperrung des Netzes raten, also im Namen der Netzbetreiber den Teufel an die Wand malen, vertrauen die WLAN-Sender auf die guten Absichten ihrer Mitmenschen. In der Tat wollen diese „Schwarzsurfer“, Kriminalisierungssound der Netzprovider, in den allermeisten Fällen nicht an die Daten der Netzgastgeber, sondern an ihre eigenen. Mal eben eine Mail abrufen oder eine Information googeln.

Hat der Fremdnutzer seine Firewall aktiviert und aktuelle Virenschutzprogramme auf seinem Rechner und der Gastgeber eine „Real Flatrate“ – und nicht etwa einen abgestuften Volumentarif –, ist das Ganze ein problemloses Miteinander: leben und leben lassen.

Sehr zum Ärger der Netzanbieter hat sich auch die nachbarschaftliche Gemeinschaftsnutzung der WLAN-Netze flächendeckend durchgesetzt: Der Freiberufler von nebenan hat einen DSL-Router mit WLAN-Schnittsteller, alles von der Steuer absetzbar, und die Studentin von nebenan klinkt sich ein, das Passwort hat sie von ihrem Nachbarn bekommen.

Kein Volk von egoistischen „Schwarzsurfern“, eher eines von netten Netzschnorrern.

MARTIN REICHERT