Zögere den Rausch hinaus

Ein Kapitän an der Trompete, der das Mothership durch Sternennebel wilder Improvisationen lenkt: Miles Davis’ „The Cellar Door Sessions“, 1970 in einem kleinen Club eingespielt, gibt es als CD-Box

von HARALD FRICKE

Der Applaus ist verhalten. Keine spitzen Schreie des Entzückens, keine Klatschwelle nach dem Solo. Nur am Ende der Sets ein paar Sekunden wohl auch erschöpfter Beifall. Standing Ovations hat Miles Davis für seine Auftritte im Washingtoner Club Cellar Door jedenfalls nicht bekommen.

Das liegt nicht nur an dem Ort, der mit seinen jeweils kaum 200 Gästen an den vier Abenden, aus denen Sony nun eine Box mit sechs CDs gezimmert hat, ein eher lauschiger Treff für Fanzirkel war. Die Reaktionen auf die Davis-Konzerte fielen schon ein halbes Jahr zuvor nicht überschwänglich aus. Nicht im Fillmore East, wo er Anfang April 1970 als Vorgruppe der Steve Miller Band gebucht war. Und auch nicht im Sommer beim Isle-of-Wright-Festival, als 300.000 Hippies bekifft in der Sonne brutzelten und auf Jimi Hendrix warteten, während Davis mit seinem Sextett eine Dreiviertelstunde am Stück improvisierte, bis zum letzten Feedback aus der Orgel von Keith Jarrett. Von der Kritik ganz zu schweigen: Für Stanley Crouch hatte sich Davis bereits mit „Bitches Brew“ aus dem Jazzbetrieb verabschiedet und ans weiße Publikum verkauft.

Ein Irrtum, wie Crouch später zugeben musste. Bei entsprechenden Drogen konnte er dem elektrischen Davis-Sound doch einiges abgewinnen: Irre Kaskaden aus Lärm, „echt bewusstseinserweiternd“, hat Crouch 2004 in einem Interview erklärt und über den Zwist von gestern geschmunzelt. Nur der old school boppende Posaunist J. J. Johnson wusste schon 1970: „Wenn du seine Band im Studio aufnimmst und lediglich die Spur mit der Trompete abspielst: Weißt du, was du dann hast? The same old Miles.

Der gute alte Miles, verschüttet unter dem neumodischen Tand aus Funkbässen und Keyboardfirlefanz? Einfach lässt sich nicht versöhnen, was seinerzeit ein Kampf der Kulturen war – Fusion, Soul-Crossover-, Spirit- oder lieber gleich Free Jazz? In jedem Fall: Miles gegen den Rest der Welt, so will es die Legende vom nimmermüden Rebellen, der sich vier volle Jahrzehnte auf über 80 Platten an den Neuerungen der Musikgeschichte abrackerte. Mit dem Herz eines Boxers, wie sein Vorbild, der Schwergewichtschampion Jack Johnson, dem Davis ebenfalls 1970 eine psychedelisch kickende Hommage widmete.

Oder doch eher mit starrem Blick aufs Geld? Immerhin hatte sich „Bitches Brew“ allem Bashing zum Trotz 500.000 Mal verkauft. Für Davis war es der Höhepunkt: Gerne berichtet er in seiner Autobiografie, dass ihm das Konzept aus weniger Jazz und mehr Rock den Durchbruch bei der Generation Woodstock brachte; gerne berichtet er aber auch von Aktien und sechsstelligen Einnahmen, der teuren Villa oder dem Lamborghini, da ist er ganz Hustler aus dem 70er-Jahre-Bilderbuch. Trotzdem gab es vor ihm bereits umsatzstärkere Jazzmusiker – der Saxofonist Eddie Harris stand mit seiner millionenfach verkauften Single zum Soundtrack von „Exodus“ 1961 wochenlang in den Top Ten. Nicht etwa in der Nische für Jazz, sondern unter der Rubrik Pop. Aber wer kennt heute noch Eddie Harris?

Keine Frage, spätestens mit „Bitches Brew“ hatte Davis freie Hand. Seine Plattenfirma ließ ihm die endlosen Sessions mit dutzendweise Musikern durchgehen. Erst am Schneidetisch montierte der Produzent Teo Macero das Material so geschickt zusammen, das auf dem nicht von ungefähr „Live-Evil“ betitelten 71er-Doppelalbum ein kaleidoskopisch verpuzzeltes Kunststück aus darker Sly-Stone-Verstrahltheit, James-Brown-Hektik und Hendrix zitierendem Wahwah-Trompetengewimmer herauskam.

Mit den „Cellar Door“-Aufnahmen wird dieses trippige Soundgeflecht aus dem Studio zurück auf die Füße der Liveerfahrung gestellt. Tatsächlich ist der Zauber selbst auf der kleinen Clubbühne mächtig, fremdartig, groß. Wie Jack de Johnette am Schlagzeug quasi aus dem Nichts einen vertrackt romperstompernden Beat legt, dazu der in Schlangenlinien tänzelnde Motown-Bass von Michael Henderson, einem damals 19-jährigen Wunderkind, das Davis aus der Begleitband Stevie Wonders losgeeist hatte. Während der Rhythmus solchermaßen an Fahrt zunimmt, keift sich Gary Bartz auf seinem Sopransaxofon durch Blues from outer space, Keith Jarrett schraubt am Fender-Rhodes-Piano die letzten Bestandteile einer Melodie auseinander, irgendwann raschelt Airto Moreira aus dem brasilianischen Unterholz dazwischen. Kein Abend klingt gleich: „What I say“ etwa weitet sich vom 16. bis zum 19. Dezember 1970 allmählich von einer zögerlichen Uptempo-Jam zum hysterischen 21-Minuten-Opus in full effect – John McLaughlins Gitarrenkreischen inklusive.

Und Miles Davis? Hört zu, überlegt, lässt Raum, zögert den Rausch, in den sich seine Mitmusiker spielen, weiter hinaus. Meistens schwillt sein aus Hallspiralen metallisch verstärkter Ton erst nach Minuten an, selten dominiert er länger als ein paar Phrasen. Immer aber merkt man die Führungsstärke von Davis: Er ist der Kapitän, der das Mothership durch wilde Sternennebel lenkt. Hinaus in Galaxien, in die kein Mensch bis dahin vorgedrungen war. Oder zumindest einer, vielleicht doch: Sun Ra. In die Quere sind sich die beiden dennoch nie gekommen. Es gibt halt genügend Platz da draußen.

Miles Davis: „The Cellar Door Sessions 1970“ (6-CD-Box; Sony/BMG)