Berliner sind schwer zu retten

Die Feuerwehr zieht eine zwiespältige Bilanz ihrer großen Notfallübung. Der simulierte Fabrikbrand und der Einsturz einer Riesenleinwand wurden gemeistert, den Chemieunfall überlebte niemand

von WALTRAUD SCHWAB

Es ist eine Meldung des Grauens: Beim Einsturz einer Großbildleinwand sind 20 Menschen zu Tode kommen. Mehr als 150 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Erschütternde Szenen spielten sich rund um den Unglücksort im Sportstadion an der Prühßstraße in Mariendorf ab. Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hat den Katastrophenfall ausgerufen.

Alles nur gespielt. Am Samstag wurde in Berlin gleich an drei Orten der Ernstfall geprobt. Kurz nach dem Alarm aus Mariendorf traf ein Notruf aus Karlshorst in der Leitstelle der Feuerwehr ein: Ein Fabrikbrand mit Explosionen und eingeschlossenen Menschen. Keine zehn Minuten später kam noch ein Chemieunfall am Gesundbrunnen hinzu.

Zu diesem Zeitpunkt versuchte die Feuerwehr im Stadion bereits, das Chaos in den Griff zu kriegen. 200 Statisten der Bundeswehr, vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) und anderen Einrichtungen hatten sich auf verletzt schminken lassen und lagen teils unter dem eingestürzten Gerüst, teils rannten sie in Panik auf dem verschneiten Fußballplatz umher, brüllten um Hilfe oder kauerten auf der Tribüne. Trümmerteile hatten nicht nur in unmittelbarer Nähe der Leinwand, sondern auch drumherum Menschen zu Schaden gebracht. Die unverletzt Gebliebenen verstärkten das Durcheinander. „Ich suche seit zwei Stunden meinen Sohn“, berichtet ein Vater mit einer abgerissenen Puppenhand in der Hand. Ein Feuerwehrmann habe die Hand seines Sohnes in den Schnee gesteckt und „kühlen“ gesagt. Er, der Vater, habe sie aber wieder ausgebuddelt. Seither suche er sein Kind.

An der Notfallübung „Triangel“ nahmen 2.000 Helfer von Feuerwehrleute, Polizei, Bundeswehr und dem DRK teil. Sie war ein Test, der zeigen sollte, ob Berlin für die Fußball-WM gerüstet ist. Die Details der simulierten Unglücke kannten die Hilfskräfte nach Aussage des Pressesprechers der Feuerwehr nicht.

Offiziellem Wortlaut zufolge dauerte es im Marienfelder Stadion etwa zehn Minuten, bis die ersten drei Rettungswagen der Feuerwehr eintrafen. Schneller wäre besser gewesen: Nach Aussage des Feuerwehrsprechers hätten sie fünf Minuten früher am Unglücksort sein sollen. Die nächste Probe hat der leitende Feuerwehrmann des ersten Hilfszugs bestanden: Er schätzte die Lage richtig ein und meldete „Massenanfall an Verletzten der Stufe 4“, der höchsten. Danach begann die Bergung der Verunglückten aus der Gefahrenzone und die „Triage“: die Aufteilung in lebensbedrohlich, schwer und leicht Verletzte.

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis im Chaos auf dem Spielfeld so was wie Ordnung herrschte. „Wichtig ist, dass es hinter den Kulissen funktioniert“, meinte ein Beobachter der Feuerwehr. Eine Stunde sei ein normaler Zeitrahmen.

Geht es nach den Worten des Innensenators, der später im Stadion eintraf, ist Berlin auf die WM vorbereitet. „Wir sind gut aufgestellt“, sagte er. „Gut aufgestellt“ ist der Lieblingskommentar all derjenigen, die offizielle Verlautbarungen geben. Die größten Gefahren während der WM werde sowieso von Hooligans ausgehen, glaubt Körting. Von der Frage, wie sich Berlin vorbereite, wenn die politische Situation sich noch zuspitze, etwa im Hinblick auf den Iran, wiegelt er ab. Das beste Mittel gegen Terrorismus seien Prävention, Information, Videoüberwachung und Erkenntnisgewinn im Vorfeld. Hier aber ginge es um die Bewältigung eines Unglücks. Die Ursache sei egal.

Die Übung in Mariendorf sei gut verlaufen, bestätigt auch Albrecht Broemme, der Landesbranddirektor und Chef der Berliner Feuerwehr. Fehler sollten bei so einer Übung ja gemacht werden, um sie im Ernstfall nicht zu wiederholen. Beim Gasunfall am Gesundbrunnen hat es derer allerdings mehr als genug gegeben. Der Einsatz musste abgebrochen werden. Die Verletzten wären vermutlich alle gestorben, da die Hilfe zu spät gekommen wäre. Die Gründe werden noch untersucht. Im April will die Feuerwehr eine Auswertung vorlegen.

Im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen klingen Feuerwehrleute, die nicht namentlich genannt werden wollen, auch im Mariendorfer Stadion bedächtiger: Die Abstimmung zwischen den Hilfsorganisationen müsse verbessert werden, die Verletzten stünden viel zu lange rum. Im Ernstfall würden jedoch zusätzlich Privatleute oder Taxifahrer helfen und Leichtverletzte wegfahren – oder wenigsten Kaffee vorbeibringen.

Auf dem Spielfeld ist ebenfalls wenig Euphorie zu spüren. Viele der Verletzten frieren in der Kälte. „Zu wenig medizinisches Personal“, sagt einer. „Niemand hat mich gefragt, was ich habe.“ Nur registriert worden sei er. Ein anderer saß stundenlang auf einer Isomatte auf dem Verletztenplatz, dann brachte ihn jemand in die Nähe des Versorgungszelts und ließ ihn dort stehen. Dabei sei er 102 Jahre alt, aus Berlin und hieße „Bismarck“. Wahrscheinlich weiß er nicht, dass die Feuerwehr Hilfskriterien hat. Denen zufolge gilt: Jüngere Schwerverletzte werden schneller versorgt als alte. „Die Jungen haben das Leben ja noch vor sich“, erläutert einer der Feuerwehrmänner.