Eine Boheme alla turca

Feine Unterschiede (8): In Deutschland hat sich mittlerweile eine breite türkischstämmige Mittelschicht etabliert. In ihren Vorstellungen von Bürgerlichkeit lässt sie sich auch von ästhetischen Vorbildern aus der Türkei leiten

■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel

Von DANIEL BAX

In seinem Erinnerungsbuch „Istanbul“ (das bislang noch nicht auf Deutsch vorliegt) beschreibt der Schriftsteller Orhan Pamuk das Apartmenthaus, in dem er in den Fünfzigerjahren mit seiner Großfamilie aufwuchs. In jedem der fünf Stockwerke wohnte ein anderer Teil der Familie, und in jeder Wohnung gab es ein Piano, das nie benutzt wurde, sondern lediglich als Ablage für eine Galerie von Familienfotos diente. Darüber hinaus gab es in diesen Zimmern einen Kaffeetisch sowie eine Glasvitrine mit chinesischem Porzellan und teurem Geschirr, das ebenfalls nie benutzt wurde. Diese Wohnzimmer waren nicht zum Wohnen gedacht, sondern vielmehr kleine Museen, die dem auswärtigen Besucher demonstrieren sollten: In diesem Haushalt wird ein westlich-moderner Lebensstil gepflegt.

Nicht nur wohlhabende Familien leisteten sich solch einen Salon, sondern in der ganzen Türkei fanden sie nach und nach Verbreitung. Erst als das Fernsehen aufkam, in den Siebzigerjahren, kamen diese „Wohnzimmer“ allmählich aus der Mode.

Das Beispiel gibt Aufschluss über türkische Vorstellungen von Bürgerlichkeit, die ihre Wurzeln im ausgehenden Osmanischen Reich haben. Wie ein Kritiker damals schrieb, gab es dort drei literarische Gattungen: „das Epigonentum, das Plagiat und die Übersetzung“. Und über die Oberschicht im späten Osmanischen Reich sagte er, dort sei „jeder für sich ein türkisch sprechender Franzose gewesen“. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Verwestlichung von Staat und Gesellschaft eingesetzt, die in der modernen Türkei später zum republikanischen Ideal erhoben werden sollte. Modernität bedeutete demnach schlicht, sich an westlichen Vorbildern zu orientieren.

In den ländlichen Regionen der Türkei, in Anatolien, stieß diese kulturelle Verwestlichung jedoch an ihre Grenzen. Vielerorts gilt der Besitz eines Esstischs bis heute als äußerster Ausweis einer westlichen Gesinnung, denn traditionell wird in den Dörfern der Türkei zum Teil noch immer auf dem Boden gesessen. Aus solchen traditionellen Verhältnissen stammt die Mehrheit der Arbeitsmigranten, die einst aus der Türkei nach Deutschland kamen. Für viele bedeutete die Migration nicht nur sozialen Aufstieg, sondern auch eine kulturelle Verbürgerlichung.

Bis in die Achtzigerjahre saßen viele türkische Familien hierzulande allerdings noch mental auf gepackten Koffern und hegten den Wunsch, irgendwann in die Türkei zurückzukehren. Entsprechend vorläufig waren ihre Wohnungen eingerichtet, wobei die Anschaffung eines großen Kühlschranks, einer Schrankwand und einer Sofaecke häufig den ersten Schritt zur Sesshaftwerdung bedeutete. Oft genug aber blieben die Polsterbezüge oder die Fernbedienung noch lange Zeit in Plastikfolie verpackt, denn sie sollten ja keinen Schaden nehmen.

So wuchsen die Kinder der zweiten Einwanderergeneration auf, die in Deutschland zur Schule gingen und hier heimisch wurden. Als in den Achtzigerjahren die Videorecorder in Mode kamen, gehörten die Türken in Deutschland zur technischen Avantgarde: Überall in deutschen Städten schossen damals Videotheken aus dem Boden, in denen man türkische Filme ausleihen konnte. Gleichzeitig waren Einwandererepen wie „Der Pate“ prägend für die zweite Generation, die sich in den italoamerikanischen Figuren wiederfand, und auch Filme über Aufsteiger wie „Rocky“, der sich aus einfachen Verhältnissen buchstäblich hochboxen musste, standen hoch im Kurs. Zugleich setzte Anfang der Achtzigerjahre die Identifikation mit der afroamerikanischen Rapkultur ein: Die ersten Breakdancer, die auf deutschen Straßen ihre Pirouetten drehten, waren jedenfalls oft genug türkische Jungs.

Am Musikgeschmack lässt sich vielleicht am deutlichsten der Unterschied zwischen den türkischen Migrantenkids und der deutschen Mittelschichtsjugend markieren: Die einen hörten HipHop aus den USA – ein Genre, das vom Leben auf der Straße und im „Ghetto“, vom sozialen Aufstieg und von Ausgrenzungserfahrung handelte und mit der Zeit immer mehr einem hemmungslosen Materialismus frönte. Die anderen bevorzugten Gitarrenmusik, die von den Ängsten und Frustrationen des Mittelschichtindividuums handelte. Während die einen dazugehören wollten und vom sozialen Aufstieg träumten, suchten die anderen nach einer musikalischen Gegenästhetik, um sich von ihrer bürgerlichen Herkunft abzugrenzen.

Dieser Distinktionswille geht auch heute noch vielen der Migranten der „zweiten Generation“ völlig ab, denen der soziale Aufstieg gelungen ist. Es gibt inzwischen eine breite türkische Mittelschicht in Deutschland. Sie zeichnet sich allerdings durch einen relativ konventionellen Geschmack aus, der an H & M und Peek & Cloppenburg geschult ist, sowie durch einen Hang zu Statussymbolen von der Gucci-Uhr bis zum BMW. Markenbewusstsein und ein ausgeprägter Materialismus dienen dazu, die Entbehrungen der Jugend zu kompensieren. In der Wahl solider Studienfächer wie Medizin oder Jura manifestieren sich Aufstiegswille und Ehrgeiz. Nach der obligatorischen Heirat werden Neubauwohnungen bevorzugt und nach Katalog eingerichtet. Es wird viel Wert auf die Bildung der Kinder gelegt, und wenn es das Einkommen erlaubt, kehrt man den Einwanderervierteln den Rücken. Man versteht sich als Teil dieser Gesellschaft, und viele holen sich zu Weihnachten heute sogar eine Tanne ins Haus. Kurz gesagt: Viele Migranten sind heute zu besseren Deutschen mutiert.

Statt wie früher in die Türkei zu fahren, um Verwandte zu besuchen, buchen sie heute ihren Pauschalurlaub bei Öger-Tours. Dennoch bildet die Türkei für viele noch immer den Maßstab für die Versöhnung von Modernität und türkischer Lebensart. Modisch orientiert sich die Migrantenjugend an Pop- und Fußballstars aus der Türkei und deckt sich im Urlaub mit türkischen Modemarken ein (von denen manche, wie Mavi-Jeans, inzwischen zur globalen Marke geworden sind). Die türkische Intelligenzija in Deutschland verfolgt darüber hinaus auch die aktuellen Diskurse in der Türkei.

Die ästhetischen Vorstellungen von Bürgerlichkeit haben sich in der türkischen Diaspora parallel zu den Veränderungen in der Türkei gewandelt. Dort stellen inzwischen die USA das kulturelle Leitbild dar – und das nicht nur, weil ein Großteil der türkischen Elite dort studiert hat. Dieser Einfluss zeigt sich etwa daran, dass es in der türkischen Oberschicht heute als schick gilt, Türkisch mit amerikanischem Akzent zu sprechen und sich die In-Bars und Shopping-Malls in Istanbul und Ankara kaum von US-Vorbildern unterscheiden. Es zeigt sich aber auch am Bürgersinn, der sich im Mäzenatentum großer Konzerne äußert. Denn wie in den USA sponsern erfolgreiche Unternehmer auch in der Türkei ganze Galerien und Festivals, manche haben sogar Philharmonieorchester und ganze Universitäten gegründet.

Schon immer war das Kulturleben in der Türkei säkular und westlich geprägt, und als Begründer einer authentischen Boheme alla turca beruft man sich heute noch gerne auf Schriftsteller wie Sait Faik, Nazik Hikmet und Aziz Nesin. Im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung der letzten Jahre hat sich die Kultur allerdings stark kommerzialisiert und globalisiert, und auch der staatlich verordnete Säkularismus wurde zunehmend aufgeweicht. Denn neben den linken Gruppen, die ihre Kritik am türkischen Nationalismus, dem autoritären Staat und westlicher Konsumkultur artikulierten, war es vor allem der Islamismus, der sich seit den Siebzigerjahren an den Universitäten der Türkei als Gegenbewegung zum herrschenden Bürgertum formierte.

Inzwischen ist auch diese Bewegung aber längst in der Bürgerlichkeit angekommen. Mit der Qualitätszeitung Zaman verfügt sie zwar über ein intellektuelles Zentralorgan, das auch hierzulande unter Studenten und Akademikern immer mehr Abonnenten findet. Doch zwischen islamischer Literatur, religiösen Wandkalendern und einer Vorliebe für Kalligrafiekunst sucht dieses Milieu noch nach einer eigenen Ästhetik.