Das verschwindende Europa

Für eine melancholische Geografie unseres Kontinents: Pogradec, Rudňany und die anderen

VON ANDRZEJ STASIUK

In Thanës gingen wir zu Fuß über die Grenze. Auf der albanischen Seite standen auf einem Betonplatz zwei alte Mercedes. Die Strecke nach Pogradec sollte fünfzehn Euro kosten, aber wir einigten uns auf zwölf. Wir fuhren am Ohridsee entlang, am gegenüber liegenden Ufer lag Mazedonien. Es war heiß. An einer zerstörten Bahnstation stand ein einsamer Personenwaggon. Er hatte keine Fensterscheiben und war rot vor Rost. Unser Fahrer schwieg. Aus dem Radio kam eine Frauenstimme. Als wir in die Stadt hineinfuhren, begriff ich, dass diese Stimme einen portugiesischen Fado sang.

Die Melancholie der Musik verflocht sich mit der Melancholie der Stadt, und mein Gedächtnis wird sich von diesem Eindruck vermutlich nie wieder befreien können: niedrige graue Häuser, Chaos auf der Straße, wolkenloser Himmel, blauer Dunst über dem See und die tiefe Stimme der Sängerin, erfüllt von angespannter Trauer.

Ein paar Schweine trippelten über den Bürgersteig. Sie überquerten die Fahrbahn und trabten zwischen die zweistöckigen Wohnhäuser. Hinter den flachen Dächern der Betonsiedlung ragte die Kuppel einer Moschee auf. In der Luft hing Staub. Es war später Nachmittag. Wir fuhren zum Hotel Tea – ein albanischer Name, mit Tee hat er nichts zu tun. Das Ende der Straße verschwamm in blauem Glanz. Das Wasser des Sees und die Luft vermischten sich und verwandelten sich in Dunst, der zusammen mit dem Zementstaub und dem sumpfigen Geruch die Gassen der Stadt erfüllte.

Wir waren aus dem Kosovo gekommen, aus Prishtina, und den ganzen Tag unterwegs gewesen, mit Halt in Skopje und Struga. Eine Reise in eine unbekannte und unbeliebte Gegend. Wer fährt schon in das Kosovo? Wer außer seinen Bewohnern, internationalen Beamten und Soldaten aus allen Ecken der Welt? Wer braucht das Kosovo? Oder Mazedonien? Kleine, vergessene Länder, die für die einen Probleme darstellen, für die anderen Beute. Wenn die Welt für einen Moment ihren Blick abwendet, hören sie einfach auf zu existieren, denn heutzutage existiert nur das, was von anderen wahrgenommen wird. Die Existenz als solche hat ihren Sinn schon lange verloren.

Pogradec war also am Ende der Welt. Ein paar Kilometer weiter begann Mazedonien. Noch ein Stück weiter Griechenland. Die Stadt lag auf einem schmalen Küstenstreifen, eingezwängt zwischen See und Gebirge. Am Spätnachmittag sah sie schön und schläfrig aus. Auf der Uferpromenade spazierten ältere Männer, mit altmodischer Eleganz gekleidet. Alle mit Hut, in dunklen Hosen mit Bügelfalte, und die meisten, trotz der Hitze, in Jacketts. Relativ klein, schlank, mit rauen, länglichen Gesichtern. Sie gingen zu zweit oder saßen bei einer Schachpartie im Schatten der Bäume. Ringsum sammelten sich Schaulustige im gleichen Alter und in ähnlicher Kleidung.

Zu kommunistischen Zeiten befanden sich in der Gegend von Pogradec gigantische Gruben von Blei,- Nickel,- und Eisenerz. In den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die Förderindustrie von chinesischen Spezialisten modernisiert. Die alten Männer mussten sich an sie erinnern. In ihrer einfachen, leicht soldatischen Eleganz ähnelten sie pensionierten Ingenieuren.

Ich ging die Uferpromenade entlang und versuchte in den diskreten Gesten der albanischen Rentner Spuren chinesischer Selbstbeherrschung zu entdecken. In den Gärten standen Villen in italienischem Stil, umgeben von Palmen, Pinien und Rhododendren. Die Häuser sahen mäßig vernachlässigt aus, hier und da verwüstet, und dadurch hatten sie nichts von der ostentativen Kurort-Ausstrahlung der Mittelmeerländer. Sie waren eine Reminiszenz an die Zeiten der italienischen Vorherrschaft Anfang des vorigen Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs verwandelte sich die Vorherrschaft in wirkliche Okkupation, und Pogradec wurde in Perparimi umbenannt, das heißt „Entwicklung“. Was die toponymische Erfindungskunst angeht, unterschied sich der Faschismus wenig vom Kommunismus.

Die Frauen entspannten sich getrennt. Sie saßen auf Bänken im Schatten, die Hände im Schoß. Die meisten hatten graues, straff zusammengestecktes Haar und trugen dunkle Kleider. In Polen, der Slowakei und Ungarn trifft man solche Frauen in Dorfkirchen. Sie gehörten zwar einer städtischen Landschaft an, aber es fehlte nur der Rosenkranz, und sie hätten ausgesehen wie meine Großmutter auf dem Weg zur Sonntagsmesse im Dorf Gródek in Podlasie.

Pogradec erinnerte an ein Bild. Während ich die Promenade entlangging, hatte ich das Gefühl, ich sei in das Innere eines Gemäldes geraten. Oder mitten in ein Theaterstück. Landschaft, Kleidung und Gesichter wiesen eine leichte Verschiebung auf, die bewirkte, dass die Welt, die Wirklichkeit, das heißt Pogradec, sich in eine Illusion verwandelte. Die Landschaft wurde zur Kulisse, die Kleider wurden zu Kostümen, die Gesichter zu Masken, die Gesten zu Spiel. Anders gesagt: Pogradec glich einem Traum. Seine Wirklichkeit war etwas stumpf an den Rändern, leicht abgerundet. Pogradec war wie ein Märchen, eine Geschichte, in der ein Wunder geschieht und niemand darüber staunt.

Am Abend machte ich einen Spaziergang. Die Stadt lebte. Ich zählte die Billardlokale. Überall gab es welche. In den Erdgeschossen der Häuser, in leeren Betonräumen, im ersten, im zweiten Stock. Aus den hell erleuchteten Fenstern tönte das Rollen der Kugeln. Pogradec hat etwa zwanzigtausend Einwohner. Allein im Zentrum zählte ich etwa dreißig Lokale und in jedem drei oder vier Billardtische. In manchen standen auch normale Tische, an denen Typen saßen, die Karten, Schach oder Domino spielten. Sie spielten einfach. Sie kamen und verbrachten ihre Zeit, von der sie – seit dem Untergang der Bergwerke – jede Menge hatten. Die Stadt wurde vom Billard beherrscht. Dieses edle Spiel, das geometrische Abstraktion und Kinetik verbindet, erlaubte es, den Alltag zu vergessen. Die Männer kreisten um die Tische wie hypnotisiert.

Der Zeit zum Fraß

Ich weiß nicht, warum ich Pogradec gewählt habe, um vom Verlorenen und Vergessenen zu erzählen. Vielleicht weil ich erst kürzlich aus dieser Stadt zurückgekommen bin. Doch ich könnte anstelle von Pogradec Dutzende anderer Städte in meinem Gedächtnis finden. Ja, ich könnte ganze Länder und ganze Staaten finden, die die Melancholie in Besitz genommen hat. Wenn mir die Zeit reicht, werde ich eines Tages die Melancholie unseres Kontinents schreiben. Dort werden Orte zu finden sein, die keiner besucht, Orte, deren Gegenwart die Vergangenheit ist, Orte, die man der Zeit zum Fraß vorgeworfen hat, wie sie einst den Barbaren zur Beute wurden. Nach den Einfällen der Nomaden sind sie aus Schutt und Asche auferstanden. Doch unter dem Einfluss der Zeit, dieser zarten Kraft, die leichter als Luft ist, sind sie zerfallen, verwittert und streben mit dem Trotz der ursprünglichsten Materie in die Tiefe der Erde, die Tiefe des Vergangenen.

Wahrscheinlich werde ich nie nach Pogradec zurückkehren. Ich werde mir die Stadt zu verschiedenen Jahreszeiten vorstellen, bei wechselndem Wetter und unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Darin liegt der Sinn solcher Reisen, Rückkehr beinhaltet immer ein Risiko. Wie es uns fast nie gelingt, zu einem vergangenen Traum zurückzukehren, so können wir auch nicht zu den Orten und Ereignissen zurückkehren, deren Schönheit und Bedeutung nur in der lichtempfindlichen Materie der Erinnerung abgebildet sind. Nur in ihren merkwürdigen Winkeln überlebt das Blau jenes Nachmittags und die tiefe, dunkle Stimme des Fado. Und nur so kann man die Stadt Pogradec der sanften und tödlichen Gefangenschaft der Zeit entreißen. Und alle anderen Orte, an denen das süße Gift der Begeisterung unser Herz stillstehen ließ.

Markuššovce

Nach Rudňany kommt man durch Spišská Nová Ves und Markúsovce. Einen anderen Weg gibt es nicht. Ringsum erstrecken sich die sanften Hügel der slowakischen Zips. In Markušovce steht das Schloss der ungarischen Adelsfamilie Máriássy. Jetzt ist dort ein Museum untergebracht. Das fantasievolle Rokokogebäude mit all dem Stuck, den Simsen, Pfeilern, mit seinen eleganten launischen Linien und seiner zerbrechlichen Form sah hier ungewöhnlich und unerwartet aus. Die Umgebung war eintönig und roh. Die großen Platten der gepflügten und geeggten Felder zogen sich bis zum großen Horizont. Auf manchen ging anscheinend schon etwas auf. Gleich hinter dem französischen Garten und dem für den Empfang des Kaisers Joseph II. gebauten Jagdschlösschen (er ist nie gekommen) floss ein Bach. In dem Bach wuschen sich Zigeunerinnen rote, ausgefranste Teppiche. Das sah schön aus in der grellen Vorfrühlingssonne. Trotz der Kälte spielten dunkelhäutige Kinder im Wasser und wirbelten regenbogenfarbene und silbrige Fontänen auf. Ihre Siedlung war hinter dem Hügel. Ein schmaler Weg führte dorthin.

Bis Rudňany, wo die Straße aufhörte, waren es noch fünf oder sechs Kilometer. Kurz hinter Markušovce hörten die bestellten Felder auf. Die Hügel zu beiden Seiten der Straße türmten sich übereinander, wurden riesengroß und verwandelten sich in Berge. Sie waren bewaldet. Einen Moment lang hatte man den Eindruck, das Menschliche höre auf und das Wilde beginne; aber das war eine Täuschung. Man fuhr mitten in ein Industriegebiet – nur dass es schon tot war. Die Straße führte in ein stillgelegtes Bergwerk.

Zuerst sah ich die zerstörten Hallen zur Rechten. Die großen Glasflächen waren eingeschlagen. Von innen schien das Nichts durch. Alles war zu Ende und würde nie wieder anfangen. In zerfallenen Fabriken liegt eine heroische, eisige Schönheit. Als stürben gigantische Tiere, die auf ihrer letzten Wanderung aus dem Weltall auf die Erde gekommen sind. Ihr Leben ist kurz, der Tod gewaltsam. Anders als der Tod von Häusern – sie waren immer um uns, an ihren Zerfall sind wir gewöhnt. Die Fabriken jedoch, die wir heute sehen, begleiten uns erst seit hundert, hundertfünfzig Jahren. Sie haben nie wirklich gelebt und sterben jetzt in völliger Einsamkeit.

Rudñany

Ein Stück weiter begann eine Art schwarze Müllhalde. Sie zog sich von der Straße bis zu den steilen Berghängen. Aus dem gefalteten Schwarz ragten Reste von Backsteinmauern. Aber hauptsächlich war es eine platte, leicht gefaltete Fläche, ein paar Hektar pechschwarzer Boden. An einigen Stellen rauchte es, ohne dass Flammen zu sehen waren, rauchte aus der Erde hervor, ein finsterer, schmutziger Qualm wie aus der Hölle.

Danach begann die Stadt. Sie lag auf der rechten Seite und kroch in eine Abzweigung des Tals. Ein trauriges, graubraunes, müdes Städtchen, wie die meisten Bergbausiedlungen auf der ganzen Welt. Am Eingang stand eine Art Denkmal: ein von Korrosion zerfressener Bergbauwagen auf einem Betonsockel. Ich verließ das Städtchen und fuhr in Richtung der stillgelegten Grube. Sie lag linker Hand, unten. Hunderte von Jahren hatten Weiße sich in den Leib des Berges gegraben, ihn geteilt, zerbröckelt und abtransportiert, um Silber, Quecksilber, Eisen, Kupfer und anderes zu gewinnen. Jetzt war hier nur ein gigantisches Loch in der Erde. Die Sonne kam hier später an als anderswo und verschwand früher. Auf dem Grunde dieses Loches lebten Zigeuner. Sie hatten ihr eigenes Rudňany gebaut: ein paar Dutzend Häuser oder Hütten aus Sperrholz, verrostetem Blech, alten Brettern, Lumpen, Pappe, kurzum aus Müll, Resten, Abfall.

Es war gutes Wetter, Dutzende von Bewohnern verbrachten die Zeit im Freien. Es gab keinen Ort, wo sie hätten hingehen können, und keinen Grund. Für sie gab es ringsum nichts. Niemand wartete auf sie. Ihre Häuser hatten sie aus Resten gebaut, die niemand mehr brauchte, an einem verlassenen, verachteten Ort, an einem Ort, der einmal wichtig gewesen, jetzt aber so armselig war wie das Nichts selbst.

Das Bild hatte etwas Teuflisches. Diese Menschen waren in einen Abgrund gestoßen worden. Mit ihren Häusern, ihrem ärmlichen Hab und Gut, ihrem ganzen Leben. Sie versuchten in einem unfruchtbaren Krater zu überleben, aus dem man jahrhundertelang wertvolle Erze gefördert hatte. Von dem Reichtum war nichts als Zerstörung und Gift übrig geblieben. Ganz einfach gesagt, dieser Ort erinnerte an die Hölle. In Rudňany hatte sich die Wirklichkeit auf unbegreifliche Weise in eine Metapher verwandelt.

In der verwüsteten postindustriellen Landschaft war etwas wie eine menschliche Müllhalde entstanden. man überließ sie denen, die an der Erzeugung von Gütern nicht teilnahmen und schon gar nicht an deren Konsum. Auf unbegreifliche oder auch prophetische Weise trafen hier die Abfälle und Reste der Industrie und Technologie auf die „Abfälle“ einer hochentwickelten Konkurrenzgesellschaft. Paradox und grausam war, dass den Preis der gesellschaftlichen Entwicklung und Veränderung die bezahlten, die mit jener Gesellschaft am wenigsten zu tun hatten. Indem sie die Errungenschaften der Zivilisation auf minimale Weise nutzten, wurden sie in ungeheurem Maße zu Opfern dieser Zivilisation.

Es gibt Orte, an denen uns der Verdacht kommt, dass wir sehen, was erst in der Zukunft geschehen wird. Rudňany war Gestalt gewordener Untergang, Vergangenheit und Verlust, andererseits erinnerte es an eine Weissagung, die sich erfüllen wird. Rudňany ist die Erzählung von einer Welt, für die immer größere geografische, historische und menschliche Räume überflüssig werden. Der reiche und sich selbst genügende Teil wird sich in einem bestimmten Moment vom Rest der Welt trennen und in die Zukunft abheben wie eine Paradiesinsel. Was übrig ist, bleibt in einer Gegenwart stecken, die sich gnadenlos in immer fernere Vergangenheit verwandelt, bis es schließlich aus den Augen verschwindet und sich im Nichts auflöst.

Das Letzte, das Verlorene – das ist es, was meine Fantasie beflügelt. Was neu und vielversprechend ist, hat mich nie angezogen. Weder Anfang noch Entwicklung sind aufregend. Erst wenn ein Ort altert, wenn er dem Ende zugeht, kann man etwas Menschliches darin entdecken. Nur in dem, was vergangen ist, können wir uns betrachten wie in einem Spiegel. Nur das, was unvollkommen ist, kann uns trösten, weil wir dann begreifen, dass wir nicht einsam sterben werden.

Andrzej Stasiuk, 1960 geboren, in Warschau aufgewachsen, ist Schriftsteller und lebt in den Beskiden. Seinen (gekürzten) Text entnahmen wir dem Band „Last & Lost“ (s. Besprechung S. 3). Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall