So soll es sein

Wie es ist, ein leeres, unbeteiligtes Leben zu führen, und wie man gerade dadurch Schuld auf sich lädt: „Die Habenichtse“ von Katharina Hacker

Sie haben alles, was man sich wünschen könnte, und trotzdem nichts wirklich, nicht mal Charaktere

von ANNE KRAUME

Der 11. September findet seltsam unaufgeregt und beinahe nebenbei statt. Eine Party in Berlin, sie war schon länger geplant gewesen. Jetzt sind viele der eingeladenen Gäste nicht gekommen. Diejenigen, die da sind, trinken Gin Tonic und drängen sich um Jakob, der tags zuvor noch in New York und im World Trade Center gewesen ist. Auf dem Parkett vor dem Fernseher immer wieder die Schatten der zusammenstürzenden Türme. Wenig Worte, kaum Kommentare.

Aber trotz der Beiläufigkeit, mit der Katharina Hacker von den New Yorker Anschlägen erzählt – die Szene vor dem Berliner Fernseher ist entscheidend für ihren neuen Roman „Die Habenichtse“. Hier beginnt alles, hier begegnen sich Isabelle und Jakob nach zehn Jahren wieder, verlieben sich, heiraten wenig später und ziehen nach London. Jakob tritt dort eine Stelle in einer Anwaltskanzlei an, die ein Kollege hatte bekommen sollen, der in den zusammenstürzenden Türmen in New York umgekommen ist.

In kurzen Kapiteln mit wechselnden Perspektiven erzählt Katharina Hacker nun nicht nur die Geschichte von Isabelle und Jakob, sondern auch die von ihren Freunden und Kollegen und Bekannten und Nachbarn. Andras zum Beispiel, der weder in Budapest noch in Berlin zu Hause ist, Andras liebt Isabelle seit Jahren und schafft es im Laufe des Romans endlich, von ihr loszukommen. Hans zum Beispiel ist Jakobs Freund, er kümmert sich um die leer stehende Wohnung der beiden in Berlin und wäre auch gern verheiratet. Oder Jim, der ein kleiner Dealer in London ist. Er vermisst seine Freundin Mae, die nach einem handgreiflichen Streit untergetaucht ist.

Was auf den ersten Blick erratisch scheinen mag – all diese Geschichten, all diese Leute, all diese Namen! –, hat doch eine innere Logik: Mit der Zeit wird immer deutlicher, wie sehr all diese scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stehenden Personen letztlich auf die Geschichte von Isabelle und Jakob hin ausgerichtet sind. Aber obwohl die beiden das innere Zentrum für alle Geschichten bilden, bleibt diese Mitte doch leer. Isabelle und Jakob sind die Habenichtse des Romantitels. Und das ist trotz ihrer guten Jobs und trotz aller Erbschaften und trotz des ganzen Gelds, das sie verdienen, durchaus wörtlich zu verstehen.

Die beiden haben alles, was man sich wünschen könnte, und trotzdem haben sie nichts wirklich, vielleicht nicht einmal beschreibbare Charaktere. Sie haben ihre Berufe (Anwalt, Grafikerin) – und doch wirkt sein Aktenstudium ebenso kindlich gespielt wie ihre Bilderbuchillustrationen. Sie haben ein angenehmes Äußeres (blonde bzw. hellbraune Haare, rundes bzw. ovales Gesicht) – und sie scheinen dennoch auswechselbar. Sie blicken zurück auf Spuren einer Vergangenheit (früher Tod der Mutter bzw. Kaumbeziehung zu den Eltern) – und wirken dabei trotzdem seltsam distanziert und unbeteiligt. Alle beide bleiben mitten in dem Personenreigen des Romans leer und hohl wie Pappfiguren, farbenfroh koloriert und hübsch anzusehen vielleicht, aber ohne Tiefe.

In Berlin war ihnen ihre Hochzeit zwangsläufig vorgekommen. „Es ist so passend“, hatte Isabelle auf die Frage geantwortet, warum sie heiraten wollten. In London gerät ihr wohl geordnetes und unbeschwertes Leben immer mehr außer Kontrolle – ohne dass es einen äußeren Anlass dafür gäbe. Weder Isabelle noch Jakob noch eine Erzählerstimme kommentiert irgendetwas. Wie schon die Hochzeit scheint auch das allmähliche Einander-verloren-Gehen unausweichlich zu sein und keines Kommentars zu bedürfen.

Jakob ist fasziniert von seinem Chef, Isabelle gerät dagegen in den Bann des Dealers Jim. Immer wieder bricht scheinbar grundlos an irgendeiner Ecke die untergründige Gewalt hervor, die unter der Banalität des wohl situierten Lebens lauert. Ein Überfall auf der Straße, eine erschlagene Katze, ein gequältes Kind, eine abgebrochene sexuelle Annäherung. Keiner der beiden spricht. Keiner trifft eine Entscheidung. Keiner empfindet etwas außer einer eigenartigen Irritation und einer leeren Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem. An die Stelle von bewussten Gefühlen und Entscheidungen tritt eine archaische Unausweichlichkeit der Dinge.

Katharina Hacker erzählt in den „Habenichtsen“ lakonisch und gelassen eine grausame Geschichte – und sie erzählt eine gute Geschichte. War es in ihren beiden vorangegangenen Romanen, „Der Bademeister“ (2000) und „Eine Art Liebe“ (2003), noch eindeutiger um die deutsche NS-Vergangenheit und deren Folgen gegangen, so spielt das jetzt nur noch sehr mittelbar eine Rolle. Die Schuld, um die es in dem Roman „Die Habenichtse“ eigentlich geht, ist unauffälliger– und gerade das macht ihn so radikal. Schuldig werden an sich selbst und an anderen, das kann man nämlich auch, indem man gar nichts tut – das zeigt die traurige Geschichte von Isabelle und Jakob. Dadurch, dass niemand diese Schuld je beim Namen nennt, keine Figur und auch kein Erzähler, vollzieht der Roman selbst die Sprachlosigkeit seiner Figuren nach und weist damit viel deutlicher auf diese Schuld durch Unterlassen hin, als man es mit Worten je könnte.

Katharina Hacker: „Die Habenichtse“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 320 Seiten, 17,80 €