Wieder nichts zu tun

Die Läuse im Efeu, ein Besuch beim Arzt, die Warze auf dem Kopf, der Wechsel der Jahreszeiten: „Maurice mit Huhn“, Matthias Zschokkes außergewöhnlicher Roman über das Gewöhnliche

Das Leben ist ein Mysterium, dem man nur staunend begegnen kann. Doch das Verstreichen der Zeit lässt sich einfach nicht fassen

von JÖRG MAGENAU

In Matthias Zschokkes Erzählband „Ein neuer Nachbar“ gab es eine Geschichte mit dem Titel „Das Cello“. Zschokke erzählte da von einem Mann, der durch die Wand seines Büros immer wieder die Töne eines Cellos hört. Es gelingt ihm nicht, zu lokalisieren, woher die Musik kommt: irgendwo aus dem Nachbarhaus in einem Berliner Hinterhofkomplex. Die Klänge faszinieren ihn, und er stellt sich vor, wer wohl dort im Verborgenen übt. Doch eigentlich will er es gar nicht wissen. Seine Suche bleibt halbherzig, denn die aufregende Ungewissheit ist zu kostbar, als dass sie durch eine vielleicht enttäuschende Wirklichkeit aufgewogen werden könnte.

Die Geschichte endete mit dem lakonischen Vermerk: „Fortsetzung folgt“. Der Roman „Maurice mit Huhn“ ist nun diese Fortsetzung, wenn man bei einem Buch, das allerlei Geschichten, Beobachtungen, Empfindungen, Reflexionen und Aphorismen versammelt, überhaupt davon reden kann. Doch die Cello-Geschichte findet gleich mehrere Fortsetzungen: ausgedachte und wirkliche. Am schönsten sind die, die bloß in der Fantasie des Erzählers geschehen. Da ist es einmal eine schöne junge Cellistin, die einen sexuellen Tagtraum erlaubt. Ein anderes Mal wartet ein misanthropischer älterer Herr, mit dem sich ein philosophischer Disput entspinnt.

Eine fortlaufende, nacherzählbare Handlung gibt es nicht. Vielmehr geht es um das Leben selbst, um das Verstreichen der Zeit, den Alltag und das Altern und um die Wahrnehmung der Dinge. „In jeder Sekunde geschieht alles“, heißt es an einer Stelle, „doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das Außergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen.“ Also können in diesem außergewöhnlichen Buch über das Gewöhnliche alle Dinge interessant werden: die Spatzen im Sand, ein Arztbesuch, die Warze auf dem Kopf, der Wechsel der Jahreszeiten, die Läuse im Efeu, das notorische Fensterputzen und eben auch die Töne eines Cellos hinter der Wand.

Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren und lebt seit 30 Jahren als Schriftsteller, Filmemacher und Theaterautor in Berlin. Mit Maurice hat er sich ein Alter Ego geschaffen, einen Flaneur in der Großstadt, der gerne mit dem Fahrrad unterwegs ist und die abgelegenen Gebiete bevorzugt. Im Wedding hat er einen Büroraum gemietet, wie Zschokke selbst. Allerdings ist Maurice kein Schriftsteller, sondern betreibt ein „Kommunikationskontor“. Dort übernimmt er die Amtskorrespondenzen für „ausländische und orthografisch benachteiligte Mitbürger“. Das heißt: Er hat so leidlich sein Auskommen, sitzt aber sehr oft einfach nur herum, denkt nach und schreibt ein paar Briefe an seinen Freund Hamid. Der erste Satz des Romans ist Programm: „Wieder nichts zu tun gehabt.“

Zschokke ist ein sehr schweizerischer Erzähler: langsam, nachdenklich, liebevoll. Action- und spannungsorientierte Leser müssen vor ihm gewarnt werden. Alle anderen können in seinen Büchern auf Entdeckungsreisen gehen. Maurice preist die Stille und möchte am liebsten, wie alle echten Indianer, unhörbar sein, wenn er sich durch die Welt bewegt. Menschen zu begegnen und gar Gespräche führen zu müssen ist ihm zuwider. Dass er mit oder neben einer Frau lebt, erfährt man erstmals auf Seite 77. Das Sexuelle spielt zwischen ihnen eine wichtige Rolle, ist vielleicht aber auch nur eine schöne Gewohnheit: „Fast ebenso gern, wie er sein Glied in sie steckt, schläft er auf dem Rücken liegend neben ihr ein. Seine Sorgen steigen dabei langsam auf und zerplatzen an seiner Hautoberfläche wie Gasblasen, die aus dem moorigen Grund eines Waldteichs emporsteigen.“

Reisen hält Maurice eigentlich für überflüssig, unterzieht sich aber dennoch immer wieder dieser Anstrengung. Mehrmals reist er in sein Schweizer Heimatdorf, wo er Seltsames erlebt: Eine Schulklasse mit Koffern in der Hand marschiert durch den Ort, weil die Kinder, wie der Lehrer erklärt, begreifen sollen, was es bedeutet, vertrieben zu werden. Die Szene ist von zentraler Bedeutung, denn so ähnlich, als Schauspieler und Probegänger, gehen alle Figuren Zschokkes durch die Welt. In diesem Ort bei Bern löst sich auch das Rätsel des Romantitels: „Maurice mit Huhn“ ist ein Bild des hier geborenen Malers Albert Anker, eines Naturalisten aus dem 19. Jahrhundert, dem zu Ehren viele Söhne des Ortes Maurice heißen. Dieses Bild ziert auch das Cover des Romans.

„Maurice mit Huhn“ ist ein Roman, der wie eine Wundertüte funktioniert. Er enthält eindrucksvolle Geschichten – ob vom sterbenden Präsidenten Mitterrand, der Fettammern in sich hineinstopft, oder von einem von allen gehänselten Klassenkameraden, dem Maurice einst so viele Keksringe aus der väterlichen Fabrik abluchste, wie er ihm über die „Pfeife“ stecken konnte. Die Töne des Cellos aus dem Nachbarhaus verbinden die disparaten Momente aus Erinnerung und Gegenwart. Das Leben ist ein Mysterium, dem man nur staunend begegnen kann. Doch das Verstreichen der Zeit lässt sich nicht fassen. „Nicht einmal das Leichteste, nicht einmal meinen Schatten und meinen eigenen Geruch kann ich halten, nichts, alles löst sich auf“, notiert Maurice, seltsam getröstet. Irgendwann ist das Leben eben vorbei. Sei’s drum. Bis dahin wird erzählt.

Matthias Zschokke: „Maurice mit Huhn“. Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006, 240 Seiten, 18,90 €