Raum aus Angst

Ein Waschmaschinenvertreter, seine Tochter und die Nachkriegsgeschichte (West-) Deutschlands: Judith Kuckarts kunstfertiger, aber steriler Roman „Kaiserstraße“

„Kaiserstraße“ – das klingt nach einer vornehmen Adresse. Doch als der Waschmaschinenvertreter Leo Böwe 1957 mit seiner schwangeren Frau Liz in die Kaiserstraße 29 zieht, ist von dem alten Glanz nicht mehr viel zu spüren. Die ehemalige Fabrikantenvilla im Osten der Kleinstadt nahe Wuppertal teilen sich fünf Mietparteien, und von der Decke bröckelt der Stuck. Ein gesichtsloser Ort irgendwo in der deutschen Provinz. Geschichte wird woanders gemacht: „Die Mauer wurde quer durch Deutschland gebaut, kam aber nicht an der Kaiserstraße 29 vorbei.“

Auf seinen Geschäftsreisen nach Frankfurt entflieht Böwe, der bald schon in der Firma aufsteigt und in der örtlichen CDU Karriere macht, der provinziellen Enge. Auch hier gibt es eine Kaiserstraße, aber eine viel weltläufigere. Hier hört er erstmals von der ermordeten Rosemarie Nitribitt. Fortan beherrscht das Bild der jungen Frau mit dem bleichen Gesicht seine Fantasie. Trotz zahlloser blonder Geliebter im Laufe seiner Ehe mit Liz bleibt das Mädchen Rosemarie, das im gleichnamigen Film traurige Berühmtheit erlangt, unerreichtes Liebesideal.

Die Ermordung der Edelprostituierten ist nur der erste von vielen historischen Marksteinen in Judith Kuckarts neuem Roman, der sich – erzählt aus der wechselnden Perspektive von Leo Böwe und seiner 1960 geborenen Tochter Jule – über ein halbes Jahrhundert erstreckt.

Die Kapitelüberschriften 1957, 1967, 1977, 1989 und 1999 folgen wichtigen Zäsuren in der deutschen Nachkriegsgeschichte – sie verdeutlichen, dass es hier um mehr als ein privates Vater-Tochter-Drama geht. In der Entwicklung beider Figuren spiegeln sich immer auch die Geschichte des Landes und seiner Bewohner, die wechselnden Meinungen und Moden wider. Der Tod Benno Ohnesorgs, Stammheim und der Mauerfall haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben, sind aber auch wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität. „Vietcong“ ist ein magisches Wort aus Jules Kindheit, die in RAF-Kreise abgedriftete ehemalige Babysitterin starrt vom Fahndungsplakat herunter, und der Wellensittich Rudi ist nach Dutschke benannt. Nicht das Private ist hier politisch, sondern das Politische wird privat.

Dennoch gerät die Geschichte in Kuckarts Roman bisweilen zur reinen Kulisse. Pastellfarbene Eisdielen und Miniröcke, Heino und „Stairway to Heaven“ – die wie Duftmarken in jeden Abschnitt gesetzten Zeichen der Zeit haben in ihrer Überfülle etwas Aufgesetztes, Requisitenartiges. So detailgenau und farbenfroh die Außenwelt beschrieben wird, so merkwürdig blass bleibt der Roman mitunter, wenn es um die Schilderung des Innenlebens seiner Figuren geht.

Gewiss, Kuckart findet neben überdehnten Metaphern von leeren Blicken, leeren Gehwegen und leeren Sonntagen auch schöne Bilder für die Traurigkeit und das Gefühl der Entwurzelung von Jule und Leo. Manchmal gelingt es ihr mit einem Satz, eine Stimmung festzuhalten. Doch dann wieder schlägt die wortkarge Lakonie, die Kuckart so glänzend beherrscht, in prätentiöse Abstraktheit um. Da ist vom „Ort seiner inneren Geographie“ die Rede, vom „Raum aus Angst“, den Leo in sich trägt. Je höher Jule in Zeiten der New Economy auf der Karriereleiter steigt, „desto leerer waren ihre Hände“. Und: „Dieses lang erprobte Ich spielte jetzt glänzend seine Rolle im Konzern.“

Vielleicht liegt es ja an der emotionalen Unterkühlung der Protagonisten selbst, dass man mit ihnen nie so recht warm wird. Judith Kuckarts Zeitpanorama zeugt von Kunstfertigkeit und poetischer Gestaltungskraft, bleibt aber zu steril, um wirklich zu berühren. MARION LÜHE

Judith Kuckart: „Kaiserstraße“. DuMont, Köln 2006, 315 Seiten, 19,90 €