Vom Millionär zum Tellerwäscher

Barbara Ehrenreich sucht in „Qualifiziert & arbeitslos“ vergeblich einen einträglichen Job. Stattdessen findet Ehrenreich eine von Abstiegsängsten verunsicherte US-Mittelklasse, die nicht begreift, dass sie der neue Kollateralschaden des Turbokapitalismus ist

Die Angestellten sind einfach viel anfälliger für die Psychoquacksalberei der Bewerbungsbranche als Arbeiter

VON STEFAN REINECKE

Jeder Tellerwäscher kann es zum Millionär bringen. Diese Metapher des amerikanischen Traums existiert noch immer. Doch: Die Leser des New York Times Magazine mussten 2003 feststellen, dass die Wirklichkeit dieses Klischee mitunter vom Kopf auf die Füße stellt. Dort wurde der Fall eines leitenden Angestellten geschildert, der 300.000 Dollar im Jahr verdiente, bis ihn seine Firma vor die Tür setzte. Zwei Jahre lang suchte er vergeblich einen neuen Job, dann bekam er einen: als Verkäufer beim Bekleidungseinzelhändler Gap. In den USA kann man derzeit also eher vom Millionär zum Tellerwäscher werden.

Dieser Fall mag extrem sein – aber er scheint etwas Neues zu verdeutlichen: Arbeitslos werden längst nicht mehr nur schlecht ausgebildete blue collar worker, deren Jobs in Billiglohnländer exportiert werden. Ausgemustert werden auch Akademiker, mittlere Manager und höhere Angestellte. 2004 war jeder fünfte Arbeitslose in den USA zuvor als mittlerer oder höherer Angestellter tätig gewesen. Rationalisiert und outgesourct wird, auch in Deutschland, bei Banken und Versicherungen.

Die US-Publizistin Barbara Ehrenreich hat in Wallraff’scher Manier einen Selbstversuch unternommen, um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Sie hat sich mit einer neuen Identität als arbeitslose PR-Fachkraft ausgerüstet und in die Abgründe der in den USA blühenden Jobsuche-Branche begeben. Sie schreibt haufenweise Bewerbungen, preist sich auf Jobmessen an und gibt horrende Summen für Karriereberater aus, die nichts zu bieten haben außer Küchentischpsychologie à la „Wer an sich glaubt, schafft es auch“. Sie hört christlichen Predigern zu, die Gottvertrauen für den entscheidenden Schritt zum neuen Job halten, und treibt sich auf trostlosen Networking-Kongressen in trostlosen Hotels herum.

Ehrenreich beschreibt die Jobsuche-Branche als eine Art Industrie, die weniger der Vermittlung von Arbeit als der Ruhigstellung der Arbeitslosen dient. Sie schildert dies mit Ironie – und ohne zu verbergen, dass die aggressive Persönlichkeitsmodellierung gelegentlich an Gehirnwäsche erinnert, die auch an ihrem robusten Selbstbewusstsein zerrt.

Warum wehren sich intelligente Leute nicht, die von einem gemeinsamen Schicksal getroffen werden? Warum fallen sie auf die trügerische Versprechungen und fast masochistischen Anforderungen der Bewerbungstrainings herein? Warum glauben die Exführungskräfte allesamt, dass sie nur wieder lernen müssen, positiv zu denken, um es wieder zu einer vernünftigen Arbeit zu bringen, obwohl sie doch offenkundig Kollateralschäden des Turbokapitalismus sind, in dem weniger Personal fast immer mehr Profit bedeutet?

Dies sind Variationen der alten linken Frage nach dem falschen Bewusstsein, die im Zentrum dieses Textes steht. Ehrenreichs Antworten sind interessant – aber nicht erschöpfend. Klar ist ohnehin: Wer schlecht ausgebildet ist und nur unqualifizierte Jobs gemacht hat, der hat eben wenig Chancen, wieder akzeptable Arbeit zu finden. Aber genau das trifft für diese Angestellten keineswegs zu. Ehrenreich trifft bei ihrer Recherche durchweg gut ausgebildete Leute, die auf blendende Zeugnisse und Karrieren verweisen können und genau deshalb ihrem Schicksal fassungslos gegenüber stehen. „Die entlassenen Führungskräfte der großen Unternehmen haben alles richtig gemacht – und sind dennoch ruiniert. Wenn jemand glaubwürdig das Verschwinden des amerikanischen Traums bezeugen kann, dann sie“, so das Resümee.

Die Angestellten sind zudem viel anfälliger für die Psychoquacksalberei der Bewerbungsbranche als etwa Arbeiter – aus nahe liegendem Grund. Eine Krankenschwester oder eine Verkäuferin definiert sich meist über das, was sie tut. Die leitenden Angestellten hingegen leben, so Ehrenreich, „in einer Welt, in der die Selbstdarstellung, die ‚Persönlichkeit‘ und die ‚persönliche Einstellung‘ meist mehr zählen als die Leistung“. Deshalb können arbeitslose Führungskräfte kaum anders, als in ihrer mangelhaften Performance die Schuld für ihre Malaise zu erkennen. Deshalb fallen sie auch auf die durchsichtigen Verheißungen der Bewerbungsbranche herein, die ihnen suggeriert, dass es nur an ihnen selbst liegt.

„Qualifiziert & arbeitslos“ ist eine Art Fortsetzung von „Arbeit poor“ (2001), einer Sozialreportage, in der sich die Autorin als Billigjobberin verdingt hatte. „Qualifiziert & arbeitslos“ hat indes zwei Mängel: einen dramaturgischen und einen analytischen. Laut Tschechow erwarten wir, dass die Pistole, die im ersten Akt aufgetaucht ist, im dritten Akt auch losgeht. Ehrenreichs Bemühungen, einen brauchbaren Job zu ergattern, scheitern hingegen. Diese Enttäuschung schmälert auch die Kraft des Authentischen, von der dieser Text lebt. Der Ausstieg wirkt wie eine willkürliche Zäsur; er weckt Zweifel, ob diese virtuelle Bewerbungskarriere auch repräsentativ ist. „Ich folge meinen Leidensgenossen nicht in die Welt der Überlebensjobs“, schreibt die Autorin. Bleibt leitenden Angestellten nach ein paar Monaten Jobsuche wirklich stets nur das Los, sich als Verkäufer bei Wal Mart oder Gap zu verdingen?

„Qualifiziert & arbeitslos“ entwirft ein anschauliches Bild der Mentalität der US-Angestelltenkultur, die unfähig ist, ihre eigene Abwicklung zu begreifen. Lesenswert ist diese Schilderung, weil das Bewerbungsbusiness auch in Europa floriert. Wenn man den US-typischen religiös aufgeladenen Glauben an das Individuum abzieht, mag man in diesem Text eine Beschreibung unserer Zukunft erkennen.

Allerdings hätte man sich neben der präzisen Schilderung auch eine analytische und historische Weitung des Blicks gewünscht. Denn der Befund, dass die Mittelklasse hilflos ihrem sozialen Abstieg zuschaut, ist bekannt. Er stammt unter anderem von Ehrenreich selbst, die dieses Phänomen 1992 in „Der Absturz“ analysiert hat. Wer die beiden Bücher parallel liest, fragt sich, ob die soziale Abwärtsmobilität der leitenden Angestellten wirklich eine grundstürzend neue Erscheinung ist. Ehrenreich argumentiert in „Qualifiziert & arbeitslos“, ohne es je explizit auszusprechen, mit einem besseren Gestern, an dem gemessen das Heute als katastrophales Defizit erscheint. Das ist ungenau. Was fehlt, ist eine analytische Einordnung der Lage der upper middle class und eine Verortung, wann und warum jenes bessere Gestern endete. Diese Analyse würde das Bild nicht hübscher machen, aber schärfer.

Barbara Ehrenreich: „Qualifiziert & arbeitslos. Eine Irrfahrt durch die Bewerbungswüste“. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Sonja Schuhmacher. Kollektiv Druck-Reif, Verlag Antje Kunstmann, München 2006, 256 Seiten, 19,90 €