„Mich schockiert nichts“

Durchschnittlich drei Jahre seines Lebens verbringt ein Mensch auf der Toilette – trotzdem ist das Thema weltweit tabuisiert. Jack Sim, Gründer der „World Toilet Organization“ (WTO), kämpft für mehr und bessere sanitäre Anlagen – und damit für eine bessere Welt

von PLUTONIA PLARRE

taz: Herr Sim, gestatten Sie eine persönliche Frage?

Jack Sim: Mich schockiert nichts.

Pinkeln Sie lieber im Stehen oder im Sitzen?

Ich stehe lieber.

Haben Sie mit Ihrer Frau deshalb Streit?

Das ist ein kulturelles Problem der Deutschen. Die Toiletten hier haben das falsche Design. In anderen Teilen der Welt geht der Urin direkt in den Abfluss. Das mindert den Spritzeffekt.

Wie oft gehen Sie am Tag auf die Toilette?

Ungefähr sechsmal. Man sagt, dass der Mensch im Durchschnitt drei Jahre seines Lebens auf der Toilette verbringt. Da wir nun schon mal bei den Zahlen sind: Die Hälfte aller Klogänger wäscht sich nicht die Hände, obwohl es auf den Toiletten nur so von Krankheiten wimmelt.

Für einen Menschen wie Sie, der in der Sauberkeitshochburg Singapur zu Hause ist, ist diese Vorstellung vermutlich ein Graus.

Singapur hat in sehr kurzer Zeit einen extremen Wandel vollzogen. Früher war das Land ganz arm, heute ist es hoch entwickelt und reich. Ich kann mich noch gut dran erinnern, dass für die meisten Leute der Fischteich die beste Toilette war.

Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?

Meine Familie war sehr arm. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es keine Kanalisation. Die Familien gingen in ihren Hütten auf einen Eimer. Ab und zu kam ein Fuhrwagen und hat die Fäkalien abgefahren. Als ich drei Jahre alt war, sollte ich auch die Gemeinschaftstoilette benutzen. Bis dahin war ich immer auf den Nachttopf gegangen. Den Anblick der Exkremente in dem Eimer werde ich nie vergessen. Alles war voller Fliegen und Maden. Ich habe mich so geekelt, dass ich nicht mehr musste.

Wie lange haben Sie durchgehalten?

Bis meine Mutter ein Einsehen hatte und mich wieder auf den Nachttopf gehen ließ. Wir hatten Nachbarn, die waren so arm, dass die Kinder keine Kleider hatten. Wenn die Kleinen nackt durchs Dorf liefen, konnte man sehen, wie sich die Würmer aus ihrem Poloch ringelten. Manche Bandwürmer waren so lang, dass es so aussah, als hätten die Kinder einen Schwanz. Als ich fünf war, sind wir in ein Haus mit einer Wassertoilette gezogen. Was war ich glücklich!

Jahre später, im November 2001, haben Sie in Singapur die World Toilet Organization (WTO) gegründet. Geht das auf Ihre Kindheitserinnerungen zurück?

Vielleicht. Ich war ein erfolgreicher Unternehmer von Mitte 40, mit ein bisschen Geld, einem Haus, einer wunderbaren Frau und vier wunderbaren Kindern. Singapurer haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 77,7 Jahren. Ich habe mir gesagt: Wenn du glücklich sterben willst, bleiben dir noch 33 Jahre, um etwas Sinnvolles für die Menschheit zu tun. Und dann habe ich damit begonnen.

Was fesselt Sie so am Thema Toiletten?

Nichts ist so nah am Menschen dran und trotzdem so tabu. Ich vergleiche das immer mit dem Sex. Über den durfte man früher ja auch nicht sprechen. Die Erfahrung hat indes gelehrt: Wer über Sex spricht, hat besseren Sex. Um eine weltweite Revolution für bessere Toiletten in Gang zu setzen, gilt es, mit dem Tabu zu brechen.

Pro Jahr sterben fünf Millionen Kinder an Unterernährung. Gibt es nicht wichtigere Probleme?

Die Toilette ist der Schlüssel zur Armutsbekämpfung. 2,6 Milliarden Menschen auf unserem Planeten haben keine Toilette. 42 Prozent der Weltbevölkerung verrichtet jeden Tag unter katastrophalen Bedingungen ihre Notdurft. 50 Millionen Menschen, hauptsächlich Kinder, sterben jährlich an Diarrhö, die durch verunreinigtes Trinkwasser und mangelhafte Hygienebedingungen verursacht wird. Wenn man das Sanitärproblem nicht löst, wird man auch das Wasserproblem nicht lösen.

Von Ihnen stammt der Satz „Toiletten bedeuten Würde“. Was meinen Sie damit?

Es gibt nur zwei Situationen im Leben, wo ein Mensch wirklich verletzbar ist: wenn er schläft und wenn er seine Notdurft verrichtet. Wer das auf dem offenen Feld, hinter einem Busch oder im Meer tun muss, hat keine Privatheit. Das ist vor allem in machistischen Gesellschaften ein großes Problem.

Was bedeutet das für die Frauen und Mädchen?

Wir haben keine Zahlen, aber unsere Erfahrung ist, dass sexuelle Belästigungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, wenn Frauen keine geschützte Toilette benutzen können. Viele Frauen und Mädchen defäkieren deshalb nur zweimal am Tag: vor Sonnenaufgang und nach Einbruch der Dunkelheit.

Defäkieren klingt ziemlich merkwürdig.

Das ist ja das Problem. Es gibt keinen Begriff, ganz normal darüber zu reden. In allen Sprachen ist das so. Scheißen oder kacken ist zu vulgär. Defäkieren, ausscheiden, exkrementieren ist zu abgehoben. In Ermangelung eines Besseren benutzen wir Euphemismen: „Big business“ – „Go to number one“ – „Um die Ecke gehen“ – „Für kleine Mädchen“. Die WTO will deshalb Sprachprofessoren bitten, ein neues Vokabular für eine ganz normale Sprache zu entwerfen.

Sie haben nun eine Woche lang überall in Deutschland Toiletten untersucht. Was ist Ihr Eindruck?

Bei den öffentlichen Toiletten ist es in Deutschland nicht anders als im Rest der Welt: Man weiß nie, was einen erwartet. Die Männerklos stinken nach Urin. Es gibt viel zu wenig Frauentoiletten. Bei Veranstaltungen führt das regelmäßig zu langen Schlangen vor den Damentoiletten. Frauen brauchen einfach länger als Männer. Sie haben keine Urinale. Sie müssen mehr ausziehen, und sie menstruieren. Außerdem unterhalten sie sich gern auf der Toilette.

Männer tun das nicht?

Männer schweigen, wenn sie ihr Geschäft verrichten. Erst wenn sie das Klo verlassen, wird die Unterhaltung fortgesetzt.

Wenn Sie den Deutschen einen Rat geben könnten, wie würde der lauten?

Größere Damentoiletten entwerfen und die Bauvorschriften ändern, damit das Vorhaben auch zur gesellschaftlichen Verpflichtung wird. Gute Klos sind im Übrigen auch ein Standortfaktor. In Einkaufszentren mit guten WCs halten sich die Kunden wesentlich länger auf. Immerhin sind 95 Prozent aller Einkäufe Spontankäufe.

Was für Toilettenkulturen kennen Sie noch?

Globalisation, Migration und Tourismus lassen die Grenzen zunehmend verschwimmen. Der Hauptunterschied ist wohl der: sitzen oder hocken. Wischen oder waschen. Auch der Grad der Privatheit ist abhängig von der Kultur. In manchen islamischen Ländern müssen die Frauen- und Männertoiletten in verschiedenen Gebäuden sein. Es gibt ländliche Kulturen, wo die Exkremente gelagert und später als Dünger in den Ackerboden eingearbeitet werden.

Was halten Sie von der Sitte, auf dem Klo zu lesen und zu rauchen?

Im Sinne einer guten Verdauung sollte es keine Tabus geben. In den USA hat mal eine große Tageszeitung gestreikt. Ein erheblicher Teil der Leserschaft war am nächsten Morgen ziemlich aufgeschmissen, weil die Zeitung nicht kam.

Ein Buch hätte es in dem Fall wohl auch getan.

Das ist ein großer Irrtum. Viele Menschen reagieren beim Defäkieren auf feinste Schwankungen. Nehmen wir die Unisex-Toiletten in Bürohäusern. Von Frauen weiß ich, dass sie sofort Verstopfung bekommen, wenn ein männlicher Kollegen die Nachbarkabine betritt. Sie versuchen jedes Geräusch zu vermeiden, weil ihnen das furchtbar peinlich ist.

Die ganz persönliche Traumtoilette von Jack Sim– wie würde die aussehen?

Hell, sauber und freundlich. Sie sollte eine gute Ventilation und Beleuchtung und Seife und Wasser und Handtuch an der richtigen Stelle haben. Ich verstehe unter einem guten Klo einen Ort der Entspannung, an dem man allein ist, tief durchatmen kann und den ganzen Stress draußen lässt. Kurzum: ein Ort, an dem man mit sich und seinem Körper im wahrsten Sinne des Wortes ins Reine kommt.