Wenn nichts mehr kommt

In Thomas Heises eindringlichem Dokumentarfilm „Im Glück (Neger)“ verlieren erwerbsbiografisch scheiternde junge Menschen mit der Sprache auch ihre Utopien

In unzähligen Anläufen versucht Sven einen Brief in die Kamera zu sprechen, die er vor sich aufgebaut hat. Immer wieder hebt er an, verhaspelt sich, bricht ab, beginnt erneut, um gleich wieder innezuhalten, verzagt den Kopf zu schütteln, ein paar Silben zu stottern. Quälende zehn Minuten dauert dieser Kampf mit den Worten; seine Botschaft fällt dann eher knapp aus: Sven warnt den Adressaten, ihn in irgendeiner Hinsicht zu benutzen – ohne dass der damit unterstellte Missbrauch genauer umschrieben würde.

Thomas Heise setzt diesen Monolog ans Ende seines jüngsten Films und gibt damit das Gefühl des Vertrauensbruchs an die Zuschauer weiter – Misstrauen bleibt als dominante Stimmung vor und hinter der Kamera. Das war nicht immer so. Vor sechs Jahren hat der Film- und Theatermacher Heise mit Sven und vier weiteren Jugendlichen am Berliner Theater 89 Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome“ in Szene gesetzt. Der Kontakt zu den Darstellern blieb bestehen – Heise forderte sie in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf, Fragmente aus ihrem Alltag preiszugeben oder sich selbst zu filmen.

Sven kristallisierte sich dabei als Mittelpunkt dieser offenen Langzeitbeobachtung heraus. Seine Entwicklung seit 1999 stellt sich als eine Reihung von Irrtümern, enttäuschten Hoffnungen und Misserfolgen dar: abgebrochene Lehre, Verpflichtung zur Marine, aus der er nach wenigen Monaten in Unehren entlassen wird, verpfuschte Beziehungen, ergebnislose Wege zur Agentur für Arbeit und schließlich zum Sozialamt. Die Jahre von der späten Kindheit zum Ende der Jugend verstreichen – jene „Zeit, die man erwachsen wird“ (Sven). Das Kommunikationsdefizit wird größer. Sven bleibt das unscharfe Gefühl, ausgenutzt zu werden. Mit noch nicht dreißig Jahren zieht er verbittert Bilanz: „Es gibt einfach nichts mehr, was jetzt noch kommt.“

Selten war anhand eines Dokumentarfilms der Verlust der Sprache als Analogie für Heimat- und Utopieverlust so nachvollziehbar wie in „Im Glück (Neger)“. Der merkwürdige Doppeltitel umschreibt genau jenen Prozess der Verdrängung: aus einem infantilen Glücksgefühl wird schließlich das selbst gewählte Außenseitertum. „Ich bin ein Neger“, sagte Heiner Müller 1985 bei der Verleihung des Büchner-Preises und verwies damit wie vor ihm Herbert Achternbusch und Bertolt Brecht auch auf Shakespeare und seinen „Othello“. Auch Müller-Freund Heise begreift sich qua seiner Künstlerrolle als jemand, der eine gesellschaftlich randständige Position einnimmt. Damit beansprucht er eine Verwandtschaft zu den Gescheiterten, die er in seinen Filmen porträtiert, obwohl er im Gegensatz zu ihnen noch über das Privileg der künstlerischen Artikulation verfügt.

Noch konsequenter als in „Vaterland“ (2002) oder in „Mein Bruder“ (2005) verzichtet Thomas Heise in „Im Glück (Neger)“ auf irgendwelche Orientierungshilfen. Die vielfältige Quellenlage lässt den Film bisweilen etwas sehr heterogen werden, fast könnte man sagen: sperrig. Niemals stehen aber die testamentarische Genauigkeit und der hohe dokumentarische Wert häufig ausgeklammerter Lebenswirklichkeiten außer Frage.

Die medialen Multiplikatoren haben bislang wenig sensibel auf so viel Feinheit reagiert. Der deutsch-französische Kulturkanal Arte verlegte als Koproduzent die Sendezeit der Erstausstrahlung auf 1 Uhr in der Nacht und verkürzte den Titel auf „Im Glück“. Bei der Berlinale wurde der Film abgelehnt, und kein deutscher Filmverleih fand den Mut, Heises Film ins Programm zu nehmen. CLAUS LÖSER

„Im Glück (Neger)“. Regie: Thomas Heise. Deutschland 2006, 87 Min. Premiere: 17. 3, 21.30 Uhr, Volksbühne17.–23. 3. im Kino Blow Up