V wie Verschwörungstheorie

Im Internet kursiert derzeit eine Zukunftsvision, bei der Google spätestens 2015 den Konkurrenten Microsoft als Bösewicht abgelöst – und zusammen mit Amazon eine totalitäre Informationsdiktatur installiert haben wird, gegen die herkömmliche Medien und Menschen machtlos sind: „Epic 2015“

von ROBIN SLOAN und MATT THOMPSON

Es war die beste Zeit und zugleich die schlimmste. Im Jahr 2015 haben die Menschen Zugang zu einem früher nie für möglich gehaltenen Umfang an Informationen. Jeder trägt irgendwie dazu bei, eine lebendige Medienlandschaft zu kreieren. Die herkömmliche Presse jedoch existiert nicht mehr. Das Glück der vierten Gewalt ist verblasst. Nachrichtenmedien sind nur noch ein Nachgedanke – einsames Überbleibsel einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Der Weg ins Jahr 2015 begann im späten 20. Jahrhundert.

1989 erfindet Tim Berners Lee, ein Computerwissenschaftler am CERN-Labor für Teilchenphysik in der Schweiz, das World Wide Web.

1994 wird Amazon.com gegründet. Der junge Schöpfer träumt von einem Geschäft, das alles verkauft. Das Modell Amazon, das bald Standard für Internetverkäufe wird, gründet auf automatisierte, personalisierte Empfehlungen: ein Laden, der Vorschläge machen kann.

1998 starten zwei Programmierer aus Stanford Google. Ihr Algorhythmus ist ein Widerhall der Amazon-Logik. Links werden als Empfehlungen behandelt und speisen auf dieser Grundlage die schnellste und effektivste Suchmaschine der Welt.

1999 enthüllt ein Dotcom-Unternehmen namens Pyra Labs Blogger ein persönliches Publishing-Tool.

Friendster taucht im Jahr 2002 auf. Hunderttausende von jungen Leuten stürmen los und bevölkern es mit einem unglaublich detaillierten Verzeichnis ihres Lebens, ihrer Interessen und ihrer sozialen Bindungen.

Ebenfalls 2002 startet Google Google News, ein Portal mit Schlagzeilen und Links zu den aktuellsten Storys. Die journalistische Welt schreit auf: Google News wird einzig von Computern aufbereitet.

2003 kauft Google Blogger.

2004 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem alles begann. Die Zeitschrift Reason schickt ihren Abonnenten eine Ausgabe, auf deren Titelseite sich ein Satellitenbild ihrer Häuser und in deren Inhalt sich maßgeschneiderte Informationen befinden. Google enthüllt GMail samt einem Gigabyte freiem Speicher für jeden Nutzer. Microsoft startet Newsbot, einen kollaborativen Nachrichtenfilter. Google kauft Picassa, ein Tool zum Verwalten von Bildern. Amazon startet A9, eine Suchmaschine auf der Grundlage der Google-Technologie, die ebenfalls das Amazon-Markenzeichen, die Empfehlungen, umfasst.

Dann, im August, geht Google an die Börse. Im neuen Kapital schwimmend erwirbt Google Keyhole, eine Firma, die die Erde kartografiert und ins Netz stellt. Google beginnt zudem, die Bibliotheken dieser Welt zu erschließen und zu digitalisieren. Der iPod von Apple regt das Podcasting an, das Zeitalter des persönlichen Radios beginnt. Wir alle können unsere eigenen Gedanken, unsere eigene Musik gegenseitig direkt an die Abspielgeräte senden.

2005 kauft Microsoft Friendster als Antwort auf die nächsten Schritte von Google. Apple bringt den WiFi-Pod heraus, einen tragbaren Media-Player mit integrierter Kamera, der Podcasts und Bilder unterwegs senden und empfangen kann.

2006 kombiniert Google all seine Dienste zum Google Grid, einer universellen Plattform, die eine unbegrenzte Menge an Speicherplatz und Bandbreite zur gemeinsamen Nutzung von Medien aller Art bereitstellt. Jeder Anwender kann seinen Content sicher auf dem Google Grid speichern oder ihn veröffentlichen. Er wählt seinen eigenen Grad an Privatsphäre. Nie war es einfacher, sein Leben zu einem Teil der Medienlandschaft zu machen.

2007 antwortet Microsoft auf die wachsende Herausforderung von Google mit Newsbotster, einem sozialen Netzwerk für News und einer Plattform für gemeinschaftlichen Journalismus. Newsbotster klassifiziert und sortiert Nachrichten auf der Grundlage dessen, was Freunde und Kollegen lesen und anschauen. Es erlaubt jedem, das Gelesene zu kommentieren.

2008 kommt es zum Bündnis, das Microsoft herausfordert. Google und Amazon schließen sich zusammen und bilden Googlezon. Google stellt das Google Grid und die beispiellose Suchtechnologie zur Verfügung. Amazon liefert die Empfehlungsmaschine und seine enorme kommerzielle Infrastruktur. Zusammen nutzen sie ihr detailliertes Wissen über das jeweilige soziale Geflecht, die Demografie und die Kauf- und Lesegewohnheiten zur totalen Anpassung des Contents und der Werbung an die Kundenwünsche. In diesem Jahr wird die New York Times Online nur noch kostenpflichtig zu abonnieren sein – jedoch bleibt der Content Stream offen für die stets registrierenden Rechner von Googlezon.

Die Nachrichtenkriege des Jahres 2010 fallen durch die Tatsache auf, dass keine echten Nachrichtenmedien teilnehmen. Googlezon und Microsoft bekämpfen sich durch das wöchentliche Ausbauen ihrer Dienste. Googlezon stellt Microsoft schließlich mit einem Feature, dem der Software-Riese nichts entgegensetzen kann. Mit neuen Algorhythmen durchsuchen Googlezons Rechner Geschichten nach Namen, Orten, Bildern und anderem. Sie isolieren Fakten aus Zitaten und verwandeln Statistiken in flexible Gleichungen. Googlezon sortiert, berechnet und kombiniert diese Bruchstücke dann neu mit unseren Informationen, Blog-Einträgen, Fotos, unseren Einkäufen und unserem Leben. Nachrichteninhalte sind umfassender als jemals zuvor.

2011 erwacht die schlafende vierte Gewalt, um ein erstes und letztes Mal aufzubegehren. Die New York Times verklagt Googlezon mit der Begründung, Googlezons Tatsachen isolierende Robots seien eine Verletzung des Urheberrechts. Der Fall kommt bis vor das oberste Gericht, das am 4. August 2011 zugunsten von Googlezon entscheidet.

Am Sonntag, den 9. März 2014, bringt Google Epic heraus. Das Evolving Personalized Information Construct ist ein System, durch das unsere ausufernde, chaotische Medienlandschaft gefiltert, geordnet und dem Nutzer geliefert wird. Jeder trägt bei, und viele werden jetzt auch bezahlt, proportional zur Popularität ihrer Beiträge – ein kleiner Teil nur der immensen Werbeeinnahmen von Googlezon. Epic stellt für jeden ein Content-Paket zusammen, das seine Vorlieben, seine Konsumgewohnheiten, seine Interessen, seine demografischen Faktoren und seine sozialen Bindungen nutzt. Bestenfalls ist Epic für seine klügsten Nutzer eine Zusammenfassung der Welt, tiefer, umfassender und nuancierter als alles vorher Erhältliche. Aber schlimmstenfalls ist Epic für allzu viele Menschen lediglich eine Ansammlung von Belanglosigkeiten, viele davon unwahr, alle begrenzt, flach und sensationslüstern.

2014 geht die New York Times offline, ein schwacher Protest gegen die Vorherrschaft von Googlezon. Die Times wird ein nur noch gedruckt erhältliches Mitteilungsblatt für die Elite und die Älteren.

2015 Pinki Nankani, Flüchtling der ehemaligen Digitalausgabe der New York Times, findet eine neue journalistische Berufung. Sie beginnt, mit Geo-Daten versehene Broadcasts aus ihrer Nachbarschaft zu sammeln. Bald schon ist Pinkis Sendung ein Magnet. Immer mehr Menschen beginnen, ihre Broadcasts mit GPS zu versehen, als ihnen bewusst wird, dass auch sie dabei sein können …

Das ist das Ende des Kommentars – jedoch noch nicht ganz das Ende der Geschichte. Der Flash-Film mit der beeindruckenden Schlusssequenz, dem Autounfall aus der Perspektive eines Überwachungssatelliten, ist bei media.aperto.de/google_epic2015_de.html zu sehen. Das amerikanische Original kann bei blog.outer-court.com/videos/epic-2015.html betrachtet werden.