Ein Grenzgänger im Spagat

Auch Aboriginal-Traditionen kann man ändern: Das Sprengel Museum in Hannover zeigt eine Retrospektive des Künstlers John Mawurndjul

„Die Art, wie ich male, ist meine eigene, sie entspricht meiner Denkweise. Ich habe das Gesetz geändert“: John Mawurndjul

von URSULA WÖLL

John Mawurndjul hockt im Schneidersitz auf der Terrasse, den Kopf mit der prächtigen grauen Lockenmähne über ein großes Rechteck gebeugt, das bereits mit feinen parallelen Strichen bemalt ist. Geduldig setzt er den Pinsel immer wieder an, um sie in eine Kreuzschraffur, das rarrk zu verwandeln. Dabei dreht er das Rechteck auf seinen Knien immer weiter und wechselt die Farbe des Ockers, um den Strichbündeln eine andere Richtung und ein anderes Rot oder Gelb zu geben.

Sobald es die Landgesetze der Siebzigerjahre erlaubt hatten, baute sich der Aboriginal-Künstler eine outstation, weit entfernt von der nächsten Siedlung, Maningrida in Arnhemland, der nördlichsten tropischen Provinz Australiens. Hier, auf dem Land seines Clans findet er die Energie für seine rarrk-Gemälde, die von überlieferten Mythen erzählen. Die riesigen roten Felsformationen mit hunderten von Überhängen sind nicht weit. Darunter haben die Ahnen bereits vor Jahrtausenden ihre Menschen, Geister, Krokodile, Fische und Kängurus gemalt oder geritzt.

Der Figurenkosmos dieser in ganz Australien erhaltenen Felsmalereien findet sich heute in den Bemalungen der Körper für Zeremonien und auf Bildträgern aus Holz, Rinde oder Leinwand wieder. Doch was früher nur rituellen Zwecken und der Weitergabe des Wissens diente, wird nun auch für den Kunstmarkt geschaffen und über Kooperativen vertrieben.

Während die Aboriginals der wüstenähnlichen Zentralregion das dreaming ihrer Ahnen mit Acrylfarben auf Leinwände übertragen – anschaulich geschildert von Bruce Chatwin in seinem Buch „Traumpfade“ –, realisieren die schwarzen Bewohner Nordaustraliens ihre rätselhaften Geschichten bis heute mit Erdfarben auf der Rinde des Eukalyptusbaums. John Mawurndjul schält diese Rinden während der Regenzeit ab, presst sie eben und schneidet sie zu Rechtecken, die über zwei Meter Seitenlänge haben können. Auch die roten und gelben Ockersteine findet er in seiner Umgebung, er zermahlt sie und rührt sie an.

Die weiße Tonerde, das delek, holt er von einem Wasserloch, das als heilige Stätte gilt, weil dort die Regenbogenschlange haust und das delek als ihren Kot ausscheidet. Auf vielen seiner rarrk-Gemälde treibt sie fett und züngelnd ihr geheimnisvolles Unwesen. Geheimnisvoll zumindest für die balanda, die Weißen, die das im Sichtbaren Verborgene gar nicht verstehen sollen. „Die balanda können meine Bilder genießen, aber drinnen verborgen enthalten sie geheime Bedeutungen, von denen sie nichts zu wissen brauchen.“

Genießen wir also Mawurndjuls Bilder, denn wir befinden uns nicht auf der outstation im Busch, sondern vor einem Bildschirm im Sprengel Museum Hannover. Im Verein mit dem Baseler Tinguely-Museum ehrt es den bekanntesten Aboriginal-Künstler mit einer großen Einzelausstellung.

Zunächst kommt Skepsis auf: Wird der endlos variierte Rückgriff auf die sakralen Traditionen im Verlauf einer so immensen Produktion nicht irgendwann zu einem schematischen Akt und das behauptete Geheimnis hinter dem Sichtbaren zur effektsteigernden Phrase? Wir balanda können das kaum beurteilen, wir sind zum ästhetischen Genuss verdammt.

Doch der ist enorm, denn die Werke mit ihren vibrierenden, tonigen Kreuzschraffuren strahlen eine umwerfende Energie, Kraft und Sinnlichkeit aus. Wie riesige, etwas unebene Schilde hängen die Rindenbilder an den hellen Wänden und wirken allein schon durch ihre organische Materie. Hier findet sich auch das Gemälde, dessen Entstehung der Film von 2004 verfolgte.

Es ist mit „Mardayin“ betitelt, dem Namen einer Zeremonie. Doch wirkt es auf uns mit seinen weißen, schwarzen, gelben und roten Wellenbändern völlig abstrakt. Selbst die sonst häufig vorkommenden runden Kreise, die Wasserlöcher symbolisieren, fehlen. Die überaus feine Kreuzschraffur hat den Künstler wochenlang beschäftigt. Das Bild markiert den vorläufigen Endpunkt einer deutlichen malerischen Entwicklung des heute etwa 54-jährigen Künstlers.

Sie geht hin zu größeren Formaten, von einer roten zu einer weißen Grundierung und vor allem vom Figürlichen zu immer mehr Abstraktion. John lernte das Malen von Vater, Bruder und Schwiegervater. Er begann als geschickter Körperbemaler. Auch seine Rinden bemalte er jahrelang mit den traditionellen Geist- und Tierwesen im üblichen Röntgenstil, der Verdauungstrakt und Rückgrat mit abbildet. Sein rarrk war gröber und farblich kontrastreicher, die nun schwarzen Trennlinien zwischen den Gitterbündeln waren weiß gepunktet.

1989 nahm der Künstler an der bahnbrechenden Ausstellung „Magiciens de la Terre“ im Centre Pompidou mit dem Rindenbild „Ngalyod“ teil. Es stellt die gefährliche Regenbogenschlange sehr genau dar und betont ihre gespaltene Zunge, listigen Augen, den Verdauungstrakt und die symbolischen Speerspitzen, alles auf rotem Malgrund. Die aktuelle Retrospektive endet mit faszinierend komponierten abstrakten Strukturen, die durch ihren weißen Malgrund und die mikroskopisch feinen Kreuzschraffuren sehr viel zarter wirken und kurz an Paul Klee denken lassen.

„Die Art, wie ich male, ist meine eigene, sie entspricht meiner Denkweise. Ich selbst habe das Gesetz geändert. Wir sind neue Leute. Wir neuen Leute haben die Dinge geändert.“ Mit einem derart selbstbewussten Bekenntnis zu seiner individuellen Entwicklung bringt John Mawurndjul frischen Wind in die eher kollektiven, beharrenden und reglementierenden Traditionen. Seine Inspirationen schöpft er jedoch weiter aus ihnen und geht frei mit ihnen um, malen kann er nur auf seinem Clanland und nicht in Paris.

Der Spagat des Grenzgängers findet Nachahmerinnen und Nachahmer, was für die Vitalität der uralten Aboriginal-Kultur spricht. Bei aller traditionellen Verwurzelung öffnen sich ihre Angehörigen neuen Ideen. Bereits 1988 zeigte sich dieser Lernprozess, alte und neue Themen zu verbinden. Anlässlich der 200-Jahr-Feier des weißen Australien fanden sich 43 schwarze Künstler zusammen, um daran zu erinnern, dass bereits eine Million Menschen auf dem Kontinent lebten, als die Engländer ins Land kamen.

Die Künstlerinnen und Künstler griffen auf ihre Traditionen zurück und stellten 200 ausgehöhlte und mit Clanmustern bemalte Baumstämme auf, wie sie zur Zweitbestattung der Knochen üblich sind. Doch das heute in der National Gallery in Canberra ausgestellte Aboriginal-Memorial ist nicht nur Klage über die durch die Kolonisierung umgekommenen Ahnen, die keine angemessene Bestattung erhielten, sondern auch eine grandiose Skulptur eines wiedergefundenen Selbstbewusstseins.

Bis 5. Juni, Katalog 29,50 €