Leitthemen des Literaturbetriebs

Noch mehr Schüler in Leipzig, die hübscheren Frauen sowieso, aber immer weniger Kinder in Deutschland: Zum Abschluss der Leipziger Buchmesse

„Das deutsche Volk schrumpft schneller“, weiß die Junge Freiheit. Und dass dies schrumpfende Volk eine deutsche Zeitung brauchtDer unermüdliche Feridun Zaimoglu fand seinen Meister in der Sendung „Wickerts Bücher“. Der Meister hieß Frank Schirrmacher

von GERRIT BARTELS

Ein Plätzchen fand sich auch noch für die Junge Freiheit. Zuerst von der Leipziger Buchmesse ausgeschlossen und nach kurzem Streit doch zugelassen, musste sich das rechte Blatt mit einem wenig publikumswirksamen Stand begnügen: ganz hinten in Halle 3, in Gang K, der ansonsten komplett von der Naturzeitschrift National Geographic mit einer Fotoausstellung belegt wurde. Eine Brüskierung, so die Lesart der Jungen Freiheit, eine Folge der späten Zulassung, so die Messeleitung.

Den Standortnachteil aber wussten die Junge-Freiheit-Mitarbeiter auszugleichen. Aggressiv wurden die mit einer Zeitung bedacht, die selbst diese letzte Ecke der Halle 3 abzugehen gedachten, an zentralen Eingängen der Messehallen waren Zeitungsverteiler positioniert (Samstag früh waren an einer Stelle schon alle Exemplare verteilt, hektisch wurde am Stand Nachschub organisiert, „das muss jetzt zack, zack! gehen“, hieß es), und genauso bei Veranstaltungen, wo die Junge Freiheit meint, Interessenten zu finden. Wie zum Beispiel am Freitagabend bei „Reden über Deutschland“, einer Diskussion zwischen Julian Nida-Rümelin, Paul Nolte und Lord Dahrendorf im KPMG-Gebäude in Leipzigs Innenstadt.

Das Zeitungsverteilungsgebaren der Jungmänner auch hier: aggressiv, zackig, in dem Bewusstsein, wenig Sympathien zu haben, sich aber deshalb erst recht nicht zu verstecken. So wie die Junge Freiheit in ihrer aktuellen Ausgabe weiß: „Das deutsche Volk schrumpft schneller“, ist sie fest davon überzeugt, dass dieses schrumpfende deutsche Volk eine deutsche Zeitung braucht. Klar, dass man da unverdrossen darauf hinweisen muss – in der Zeitung, am Stand, auf Flyern – wer auf den Junge-Freiheit-Seiten schon veröffentlicht hat oder interviewt wurde.

Getrommelt aber wurde auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse selbstredend auch anderswo, gerade dort, wo es um die Messe selbst und den Buchmarkt ging. Börsenvereinsvorsteher Gottfried Honnefelder ließ wissen, dass nach einer Untersuchung des Börsenvereins 60 Prozent der Buchhändler von einem guten Jahr ausgingen und dass man auf dem Buchmarkt dieses Jahr mit einer üppigen Umsatzsteigerung von einem Prozent rechnen könne. Und Messe-Geschäftsführer, Wolfgang Marzin, sagte: „Die Buchmesse wächst stärker als der Buchmarkt – sowohl auf Aussteller- als auch auf Besucherseite. Das übertrifft unsere Erwartungen.“ Das klingt natürlich gut, und das mit dem Optimismus und mit dem stetigen Größer- und Besserwerden muss einfach so, das liegt in der Natur einer Messe.

Lief man aber dieser Tage über das Messegelände, wusste man vom ersten Tag an, warum etwa die Besucherzahlen ansteigen: Schüler über Schüler, wohin das Auge blickte, so als hätten alle Schulen in Sachsen drei Tage lang schulfrei gegeben. Man kennt das von Fußballspielen, die nicht mehr so gehen, da bekommen dann Schulklassen freien Eintritt, und schon sieht das mit der Resonanz viel besser aus. Schaute man genauer hin, waren es gerade die zentralen Gänge und das Messeforum mit seinen Essständen und Sitzgelegenheiten, wo sich die Schüler aufhielten – in den Hallen gab es weiter hinten und an den Seiten durchaus Platz zum Gehen und Lesungenverfolgen; und nachmittags ließ es sich noch entspannter begegnen, gucken und zuhören.

Zeit und Muße also für die Besucher, die keine Schüler waren. Zum Beispiel für J., der seit Mitte der Neunzigerjahre mit seiner Frau jedes Jahr von Salzgitter nach Leipzig reist. J., siebzig Jahre alt und berenteter Mediziner, ist der Messebesucher, der Literaturbeilagen sammelt und sich tatsächlich über die Publikumsnähe der Messe und die vielen Veranstaltungen freut. Interessiert ließ sich J. die Kandidaten für den Leipziger Buchpreis vorstellen, er war dann abends gleich bei Ilija Trojanows Lesung im Leipziger Zoo. Anderntags hörte J. Irene Dische zu, ließ sich Thomas Langs Roman „Am Seil“ signieren („leider nur die zweite Auflage, beim Signieren sagte Lang zu mir, er hätte schon eine dritte“) und freute er sich über die Antwort von Lars Brandt auf die Frage, ob seine Mutter und Brüder „Andenken“ für gut befunden hätten: „Vor zwei Wochen hatte meine Mutter Geburtstag, da haben wir uns getroffen.“

Welchen Schriftsteller J. nicht so registrierte, vielleicht auch (noch) nicht so übermäßig interessant fand, was wiederum bei einem Großevent wie diesem kaum zu vermeiden ist: Juri Andruchowytsch. Der Ukrainer war auf vielen Leipziger Kanälen zu hören, zum Verhältnis Europa und der Ukraine sowieso, zu Osteuropa und seinen kleinen Sprachen und großen Literaturen, zur versunkenen Mitte Europas, aber auch zur Lyrik aus der Ukraine unter dem schönen Titel „Vorwärts, ihr Kampfschildkröten“.

Man könnte sagen: Andruchowytsch war einer der Stars der Messe. Doch so wie Andruchowytsch als frischer Träger des Europäischen Verständigungspreises waren viele andere Autoren mit aktuellen Büchern übermäßig präsent und gefragt oder von ihren Verlagen in die richtigen Promotionsgleise geschoben worden, so unterschiedliche Autoren wie Dietmar Schönherr, Heiner Lauterbach, Kurt Biedenkopf, Julian Nida-Rümelin oder Feridun Zaimoglu.

Zaimoglu wiederum, ein unermüdlicher und eloquenter, gleichwohl sympathischer Werber in eigener Buchsache, fand seinen Meister bei Ulrich Wickert, der am Donnerstagabend im NDR- und WDR-Fernsehen Premiere mit „Wickerts Bücher“ hatte. Dieser Meister hieß Frank Schirrmacher und dominierte vor allem die erste halbe Stunde von Wickerts Sendung, in der „Familie“ das Leitthema war und wo neben Zaimoglu und Schirrmacher Paul Ingendaay und Bertina Henrichs auf dem Sofa saßen. Die Dominanz Schirrmachers lag mit am Konzept der (allerdings noch nicht bis zur Serienreife zu Ende gedachten) Sendung – nämlich nicht Bücher und Autoren einzeln vorzustellen, sondern diese unter eben einem Thema zusammenzufassen und zu diskutieren.

So war der Sachbuchautor Schirrmacher im Vorteil und erster Ansprechpartner Wickerts, da es um sein Thema ging, um die schwere Belastungsprobe, der die sozialen Beziehungen in Deutschland wegen des Kindermangels demnächst ausgesetzt sind. Während also Paul Ingendaay arg im Hintertreffen lag und eine halbe Stunde lang nur zu einer Wortmeldung kam und auch Zaimoglu ungewohnte Probleme hatte, wunderte sich Schirrmacher: „Warum schauen Sie mich schon wieder an, Herr Wickert?“ Routiniert erläuterte er seine „Minimum“-Thesen, sagte aber auch Dinge, über die man nur staunen konnte. Die Tatsache etwa, dass Männer im Schnitt sechs Jahre früher sterben als Frauen, begründete Schirrmacher mit Unfällen, Gewalttaten und Infektionskrankheiten (!). Oder dass man die Einstellung einer Gesellschaft zu ihren Kindern gut an den stetig zunehmenden Kindesmisshandlungen und -tötungen ablesen könne (immerhin bemerkte Wickert dazu, dass die Medien darüber nur verstärkt berichteten).

Nach so viel apokalyptischem Gepuder freute man sich, abends auf den Empfängen oder im neuen Literaturbetriebstreff in der Alten Nikolaikirche Geschichten zu hören, so eine von Suhrkamp-Geschäftsführer Rainer Weiß. Unbedingt müsse er noch in die Bar in den 27. Stock seines Hotels The Westin, erzählte Weiß. 1987 sei er dort mit Unseld gewesen, und da hätte diese junge Frau hinter der Bar gestanden, ein Christine-Kaufmann-Lookalike, nein, schöner, viel schöner als Kaufmann, und, klar, die Bar hätten sie leer getrunken.

Nicht, dass Weiß hoffte, die Frau wiederzusehen, es war die Erinnerung, die ihm so viel bedeutete; auch eine Art typischer literarischer Erinnerung. Zumal Weiß’ Geschichte selbst an Nicholas Shakespeares Roman „In dieser einen Nacht“ erinnerte, in dem es um schicksalhafte Romanzen im Leipzig vor der Wende geht. Einmal hängt dort eine der Figuren, eine Frau, ihren Leipzig-Gedanken nach: „In Leipzig waren die Frauen hübscher, die Männer größer. Und man konnte das Essen schmecken.“