Ihre Moral und unsere

Feine Unterschiede (9): Nur Neue Bürgerlichkeit gewährleistet wieder Werte – sagen Konservative.An dieser Argumentation ist die Linke selbst schuld: Sie bekennt sich nicht zu ihren eigenen Werten

■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel

VON ROBERT MISIK

Werte sind vertrackte Dinger, voller metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken. Wenn Werte im Kurs steigen, dann boomen, scheint’s, die Aktien der Konservativen. Denn sie haben, wie sie zumindest selbst meinen, einen geradezu privilegierten Zugang zu Werten, weshalb man eine Renaissance der Bürgerlichkeit brauche. Sie halten das Hergebrachte gegen die Anfechtungen des Fortschritts hoch. Gern werden diese Werte als „wahre Werte“ bezeichnet, in Opposition zu den falschen Werten der Moderne, was nahe legt, es ginge um innere Werte mit einer gewissen Resistenz gegen die äußere Welt.

Gleichzeitig sind diese „wahren Werte“ aber selbst meist nicht mehr als äußere Riten – das Weihnachtsfest im Familienkreis, Anstand, Benehmen, Sekundärtugenden. Völlig unschlagbar wird der Konservativismus, bedenkt man sein „realistisches“ Verhältnis zu Werten: Es gibt da eine gewisse Lässigkeit, die nicht etwa als mangelnde Ernsthaftigkeit ausgelegt werden darf, sondern im Gegenteil vom Bewusstsein über die ernste Tragik der menschlichen Existenz zeugt. So kann der Konservativismus einerseits die Gottesebenbildlichkeit des Menschen postulieren, muss die Sache aber nicht zu eng sehen – im Ernstfall ist auch nicht ausgeschlossen, dieses Ebenbild Gottes auf die Folterbank zu spannen.

Die Werte leisten dem Konservativismus gerade deshalb so gute Dienste, weil sie elastisch sind wie ein guter Hosenträger. Dennoch ist die Identifikation von Werten und Konservativismus im allgemeinen Sprachgebrauch so stark, dass, wer von Werten spricht, meist automatisch konservative Werte meint.

Was hat die Linke dem entgegenzusetzen? Scheinbar nur Prinzipienhuberei ohne Prinzipien, Moralismus ohne Wertefundament. Von konservativer Seite wird sogar behauptet, Linke hätten die Werte zerstört – und die Linke selbst widerspricht dem nur zögernd. Aber das sollte man nun überdenken, da die neue Bürgerlichkeit von rechts galoppiert.

Die linke Skepsis gegenüber Werten folgt aus mehreren grundsätzlichen – auch theoretischen – Prämissen, die in der Geschichte der Linken wesentlich sind. Da ist zunächst die Überzeugung, dass die Welt nicht deshalb schlecht ist, weil die Menschen schlecht sind, sondern weil gesellschaftliche Strukturen sie dazu anherrschen. Die Linke wollte nicht in erster Linie die Menschen bessern, sondern die Verhältnisse.

Der zweite Grund ist theoretischer Natur und ein Erbe der marxistischen Geschichtstheorie, die davon ausging, dass die kommunistische Gesellschaft notwendiges Ergebnis der historischen Entwicklung wäre. „Der Kapitalismus wird, mit ein bisschen Hilfe von den Freunden des Sozialismus, den Sozialismus selbst hervorbringen“, formulierte der marxistische amerikanische Theoretiker Gerald Cohen etwas sarkastisch diese Überzeugung.

Dies hatte zum Ergebnis, dass das linke Schrifttum Berge von Texten auftürmte, in denen bewiesen wird, warum etwa eine Gesellschaft, die Gleichheit achtet, notwendigerweise entstehen werde, und relativ wenige Überlegungen anstellte, „warum die Gleichheit moralisch richtig sei“ (Cohen). Ja, mehr noch: Der Überzeugung, dass nur eine gute Gesellschaft es den Individuen erlaube, gut zu handeln, folgte die Gewissheit, dass jedes Mittel recht sei, welches die Menschheit diesem Zweck möglichst schleunig näher bringt.

Aus dieser Perspektive wurde Moral einem Entlarvungsdiskurs unterzogen. „Die herrschende Klasse zwingt ihre Ziele der Gesellschaft auf und gewöhnt sie daran, alle solche Mittel, die ihren Zielen widersprechen, als unmoralisch anzusehen“, formulierte Leo Trotzki in seinem kleinen Pamphlet „Ihre Moral und unsere“ und verwarf alle Moralvorschriften, „die die Sklavenhalter für ihre Sklaven aufgestellt haben“.

So schlich sich ein gewisser Utilitarismus in die linken Argumentationsmodi ein, der bis heute überlebt hat. Gesellschaftliche Ungleichheit wird oft nicht deshalb kritisiert, weil sie etwa moralisch verwerflich wäre, sondern weil sie zur Verschwendung von Talenten führe, Innovation behindere, etc. Kritikwürdig an der Profitlogik ist nicht diese selbst, sondern sind ihre Resultate, etwa die ökologische Zerstörung und die gesellschaftlichen Kosten, die diese nach sich zöge.

Das Resultat all dessen ist ein linker Gestus, der kühle, theoretische Schneidigkeit hoch hält (in dieser Hinsicht nicht unähnlich dem neoliberalen Charakter) und für den das Gerede über Werte den Hautgout des Pfäffischen hat. So wurde mittlerweile seit mehreren Generationen eine nahezu standardisierte linke Sozialisationsgeschichte typisch: Man nähert sich, meist als Teenager, der Linken an, weil man über irgendetwas moralisch empört ist; mit wachsendem linkem „Bildungsgrad“ übernimmt man, wie bruchstückhaft immer, Elemente des theoretischen Antimoralismus und schämt sich des früheren Moralismus. Eine junge linke Aktivistin, unlängst von der Zeit interviewt, formuliert das so: „Anfangs war mein Linkssein supermoralisch. Dann hab ich Moral als bürgerlich abgelehnt und Analyse verlangt.“

Bemerkenswert ist aber der Satz, den sie darauf folgen lässt: „Inzwischen kann ich moralische Beweggründe wieder gut gelten lassen.“ Das ist erstaunlich und folgerichtig zugleich. Erstaunlich, weil eine solche explizite Aussage allen linken Selbstbespiegelungen widerspricht; folgerichtig, weil dem Werte-Skeptizismus zum Trotz die Linke in Wahrheit jene Kraft ist, deren Politik auf Werten basiert. Doch die waren immer nur implizit vorhanden. Einem Linken, der auf sich hält, ist die im Kern moralische Begründung seiner Überzeugungen seit je peinlich und alle Theorie war auch immer der Versuch, diese Peinlichkeit zu camouflieren.

Dabei ist auf Seiten der Linken eher eine raumgreifende als eine mangelnde Wertorientierung zu diagnostizieren. Mit dem Slogan „Das Private ist politisch“ wurde sogar der Alltag in einem Maße moralisiert, das auf Seiten der Rechten undenkbar wäre. Während konservative Werteschwadroneure vom Glück der Vierkinderfamilie singen, indes die Gattin sich um die Erziehung der kleinen Plagegeister kümmert, ist auf Seiten der Linken jeder Widerspruch zwischen den linken Überzeugungen und der Alltagsmoral ein Thema.

Dies ist aber nur dann berechtigt, wenn man davon ausgeht, dass die Handlungen moralischer Subjekte schon jetzt Einfluss darauf haben, ob eine Gesellschaft sich zum Guten oder zum Schlechteren entwickelt. Und selbstverständlich hängen die Linken dem Gleichheitsideal – ihrem „Polarstern“, den die Linke „immer angeschaut hat“ (Norberto Bobbio) – nicht nur deshalb an, weil sie der Überzeugung sind, dass es der allgemeinen Produktivkraftentwicklung dienlich ist, wenn möglichst viele ihre Talente entwickeln können. Sie haben kein utilitaristisches Verhältnis zur Gleichheit, darum auch die im Grunde moralische Überzeugung, dass jeder aufgrund der Würde, die ihm als Mensch zusteht, einen Anspruch auf respektvolle Behandlung hat, und dass das selbst für Asylbewerber, Arbeits- oder Obdachlose gilt.

Eher schon hat man auf der Rechten ein allenfalls utilitaristisches Verhältnis zum Gleichheitsideal. Doch wie dünn der Firnis ist, bewies vergangenes Jahr der Bremer CDU-Wirtschaftssenator Peter Gloystein, als er beim örtlichen Weinfest gaudihalber eine Sektflasche auf dem Kopf eines Obdachlosen entleerte.

Die Tatsache, dass „es in Wahrheit die Linke ist, deren Politik auf Werten basiert“ (Michael Walzer), schließt natürlich nicht aus, dass einzelne Posten dieses Wertebestandes zueinander in Widerspruch geraten können. Dass jeder, sofern er andere nicht in ihrer Lebensführung behindert, nach seiner eigenen Fasson glücklich werden und weder durch Machtstrukturen noch durch ein Korsett falscher Traditionen geknechtet werden soll, steht einerseits im Einklang mit dem Gleichheitsideal („Jeder soll seine Persönlichkeit entwickeln können“), gerät freilich auch in Widerspruch zu diesem: Wenn alle anders als die anderen sein wollen, steht die Gleichheit auf wackeligem Boden. Ja, da das Freiheitsideal auch die Entwicklung eigener Werte erlaubt, wird die Verständigung über Werte selbst schwieriger.

All das bedeutet aber nicht, dass es der Linken an Moral mangele, eher schon, dass die Linke ihre Moral ernst nimmt und somit auch die Aporien derselben – Moral verstanden als politischer Ethos, der sich aus einem Set verschiedener Wertebestände zusammensetzt. Der Respekt für die Würde des Anderen, die Achtung der Autonomie meiner Mitbürger, die Anerkennung gleicher Rechte, ein kooperativer Ethos, der Wunsch, Kindern den aufrechten Gang zu ermöglichen, ein scharfer Sinn für Ungerechtigkeiten – was sonst soll das sein als ein Set von Werten?

Allem Entlarvungsdiskurs zum Trotz ruht die Linke seit je auf einem Fundament von Werten, die in einer scharfen Spannung zu konservativen Werten stehen. Praktisch ist der Linken längst klar, was sie theoretisch immer bestritt: dass das Wohl eines Gemeinwesens nicht zum geringsten Teil von moralischen Entscheidungen ethisch handelnder Subjekte abhängt.