„Die Schmerzgrenze liegt bei 38,5 Stunden“

Die Ver.di-Vertreter dürfen sich nicht auf längere Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst einlassen, mahnt der Ökonom Heinz-Josef Bontrup. Stattdessen sollten sich alle Gewerkschaften gemeinsam für die 35-Stunden-Woche einsetzen

taz: Herr Bontrup, die Gewerkschaft Ver.di hat ein Schlichtungsangebot für den öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg abgelehnt. Schadet so eine Blockadehaltung nicht langfristig der Gewerkschaft?

Heinz-Josef Bontrup: Nein, Ver.di hätte im Gegenteil ein Problem, wenn der Streik aus Sicht der Mitglieder zu früh beendet würde. Dann verliert die Gewerkschaft an Glaubwürdigkeit, wie gerade in Hamburg geschehen. Ver.di hatte zunächst einen unbefristeten Streik im öffentlichen Dienst angekündigt. Die Verhandlungen wurden dann aber vor dem aufgebauten Erwartungshintergrund mit frustrierendem Ergebnis beendet.

Wo liegt denn die Schmerzgrenze in Baden-Württemberg?

Nach wie vor bei 38,5 Stunden. Denn die Politiker, die sich sonst bei jeder Gelegenheit für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit einsetzen, fordern hier in paradoxer Weise eine Arbeitszeitverlängerung. Ver.di kann sich daher aus ökonomischen und sozialen Gründen nicht auf längere Arbeitszeiten einlassen.

Der öffentliche Dienst in Hamburg mag ja wegen einiger Minuten Mehrarbeit am Tag frustriert sein. In der Industrie kämpfen die Gewerkschaften zurzeit hingegen an mehreren Fronten gegen Entlassungen. Bei AEG in Nürnberg ohne Erfolg. Da müsste die Enttäuschung über die Gewerkschaft noch viel größer sein.

Ja und n ein. Es hat noch nie so hohe Marktaustrittskosten gegeben wie im Fall AEG. Die 150 Millionen Euro, die den Beschäftigten über den Sozialplan zugute kommen, müssen von Elektrolux erst einmal wieder an anderer Stelle erwirtschaftet werden. Nichtsdestotrotz verlieren die AEGler ihr höchstes Gut: den Arbeitsplatz. Das ist eine klare Niederlage für die Beschäftigten und die IG Metall.

Woran liegt es?

Die rechtliche Gleichstellung von Kapital und Arbeit ist in Deutschland nicht gegeben. Alle Mitbestimmungsgesetze, die wir heute haben, sind unzureichend. Solange keine Verhandlungen auf gleicher Höhe möglich sind, wird der Faktor Arbeit niemals als Sieger aus Verhandlungen hervorgehen. Das Kapital ist juristisch abgesichert und kann jederzeit die Koffer packen und ins Ausland abwandern. Die Arbeitnehmer sitzen am kürzeren Hebel.

Aber müssen die Gewerkschaften nicht etwas ganz Grundsätzliches am System ändern, statt von einem Streik zum nächsten zu rennen?

In der Tat müssen die Gewerkschaften jetzt eine Zäsur machen, endlich eine gemeinsame Linie finden und grundlegende ökonomische Probleme aufzeigen. Ich habe den Eindruck, dass der neoliberale Virus mittlerweile auch einzelne herausragende Gewerkschaftsfunktionäre erreicht hat. Noch haben die Gewerkschaften die Macht, sich Gehör zu verschaffen. Das kann allerdings in drei bis fünf Jahren schon ganz anders aussehen, wenn die Massenarbeitslosigkeit nicht abgebaut wird und die Mitglieder weglaufen.

Was sind die dringendsten Aufgaben?

Die CDU und die FDP haben vor der Bundestagswahl gefordert: Kündigungsschutz weg, Mitbestimmung weg. Nur weil jetzt in der großen Koalition diese Pläne ruhen, dürfen die Gewerkschaften nicht schweigen. Statt der bestehenden Mitbestimmung brauchen wir mehr Mitbestimmung, mehr demokratische Strukturen in der Privatwirtschaft. Die Gewerkschaften müssen in die Offensive gehen.

Mit welcher Forderung?

Wir brauchen die 35-Stunden-Woche für alle. Ohne eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit lässt dich die Massenarbeitslosigkeit nicht mehr senken. Wer das nicht erkennt, ist entweder ein ökonomischer Dilettant oder trotz besseren Wissens ein ganz gefährlicher politischer Interessendemagoge. INTERVIEW:
BERNHARD ROHKEMPER