Bibliothek digital

Wer einmal die zwar pompöse, aber eher menschenfeindlich gestaltete Bibliothèque Nationale (BNF) in Paris besucht hat, kann sich danach gut vorstellen, wie schön es wäre, dringend ersehnte Literatur bei einem Milchkaffee im WLAN-Bistro auf den Rechner zu laden: ganz ohne Sicherheitskontrolle, Schlangenbildungen, komplizierte Katalogsysteme und schlechte Luft. Die Suchmaschine Google möchte dies möglich machen, plant bis zum Jahr 2015, rund 15 Millionen Bücher digitalisiert und somit per Mausklick abrufbar gemacht zu haben. Inklusive Volltext-Suche, was einer medialen Revolution gleichkäme.

Doch von einem der vier Glastürme der BNF aus formiert sich Widerstand gegen dieses ehrgeizige, privatwirtschaftliche und durch Werbung finanzierte Vorhaben, und zwar in Gestalt von Jean-Noël Jeanneney, Präsident der Französischen Nationalbibliothek, gelernter Historiker und – natürlich – Absolvent der École Normale Supérieure. Als Elite-Bürokrat weiß der 64-Jährige die Antwort auf „Googles Herausforderung“, so der deutsche Titel der jüngst im Wagenbach Verlag erschienenen deutschen Übersetzung seines Pamphlets „Quand Google défie l’Europe“: Um die europäische (Hoch-)Kultur vor der Dominanz der amerikanischen (Massen-) Kultur zu bewahren, braucht sie eine eigene, digitale Bibliothek, selbstverständlich staatlich organisiert. Jeanneney denkt an ein System von wissenschaftlichen Beiräten in allen EU-Staaten, die Delegierte in eine Brüsseler Dachorganisation entsenden sollen, wo schließlich entschieden wird, welche Bücher in den digitalen Kanon aufgenommen werden, und welche nicht.

Dem umtriebigen Bibliotheksdirektor ist längst die Aufmerksamkeit sämtlicher europäischer Kultusministerien sicher – außer dem britischen. Schließlich warnt Jeanneney in seinem Buch vor einer kulturellen anglo-amerikanischen Hegemonie, einer erdrückenden Dominanz der englischen Sprache. Zudem warnt er vor einer schleichenden Aushöhlung des Urheberrechts – was die Mehrzahl der französischen Verlage nicht gehindert hat, mit Google in Verhandlungen zu treten – und hinterfragt die Google-Auswahlkriterien: Das Google-Ranking ist nach Popularität geordnet.

Das Projekt einer europäischen digitalen Bibliothek ist mittlerweile angelaufen, auch dank Jeanneney. Mit seinem Pamphlet hat er ein Rennen zwischen den USA und Europa, zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand eröffnet.

MARTIN REICHERT