„Die Männer leiden am Pascha-Syndrom“

Der Pädagoge Ahmet Toprak hat sich mit Zwangsehen und häuslicher Gewalt unter türkischen Migranten beschäftigt. Er kritisiert die Verallgemeinerungen in der aktuellen Debatte. Aber ihn freut: Das Thema wird nicht mehr tabuisiert

taz: Herr Toprak, das Thema Zwangsheirat und das Pascha-Verhalten türkischer Jungmänner sind seit einiger Zeit in aller Munde. Wie finden Sie das?

Ahmet Toprak: Die Debatte als solche sehe ich positiv. Es müsste aber mehr differenziert werden. Die Tradition der arrangierten Ehe gibt es zum Beispiel nicht nur unter Muslimen.

Das legt die Bestseller-Autorin Necla Kelek nahe. In ihrem neuen Buch zitiert sie zum Beleg auch aus Ihren Arbeiten. Was halten Sie davon?

Ich kann niemandem verbieten, aus meinen Büchern zu zitieren. Aber Frau Kelek nimmt Beispiele aus meinem Buch und stellt sie ausschließlich in den Kontext des Islam. Meine Ursachenforschung ist vielschichtiger.

Ihre Vorgehensweise ist einfach höchst unwissenschaftlich. Außerdem verallgemeinert sie extreme Einzelfälle, wenn sie nur Strafgefangene befragt. Nichtsdestotrotz finde ich es gut, dass sie damit eine Debatte angestoßen hat.

Sie selbst haben für eine Studie mit 15 jungen Männern gesprochen, die Ehefrauen aus der Türkei geheiratet haben. Ihr traditioneller Ehrbegriff und Rollenverständnis sind erschreckend. Wie weit verbreitet sind solche Einstellungen?

Meine Studie ist qualitativ angelegt und kann deshalb keine empirischen Daten liefern. Ich habe türkischstämmige Männer befragt, die hier geboren und aufgewachsen sind und die sich ihre Ehefrauen in der Türkei gesucht haben. Diese Männer hatten Erfahrungen mit Frauen in Deutschland, aber kamen nicht mit deren Selbstbewusstsein zurecht. Deswegen haben sie sich in der Türkei Frauen aus dem Dorf gesucht, die eher bereit waren, sich unterzuordnen.

Auffällig viele der Befragten haben eine positive Einstellung zu körperlicher Gewalt. Woher rührt die?

In türkischen Familien aus der bildungsfernen Unterschicht ist häusliche Gewalt weit verbreitet. Oft haben diese Männer selbst Gewalt erfahren. Außerdem herrscht kein Unrechtsbewusstsein, sondern die Einstellung: Das ist mein gutes Recht.

Ist das bei deutschen Familien anders?

Wenn Arbeitslosigkeit, soziale Deklassierung und beengte Wohnverhältnisse vorliegen, dann gibt es keine großen Unterschiede. Aber bei türkischen Familien kommen noch andere Probleme hinzu: Diskriminierung oder ausländerrechtliche Probleme. Man muss sich einmal klar machen, dass ein Viertel aller türkischen Migranten arbeitslos sind: Sie sind viel häufiger von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen als Deutsche.

Ihr Buch trägt den Titel „Das schwache Geschlecht“. Warum?

Das hat zwei Gründe: Zum einen sind diese Männer schwach, weil die sich gegenüber selbstbewussten Frauen nicht durchsetzen können. Zum anderen können sie sich gegenüber ihren Eltern nicht durchsetzen, wenn die ihnen sagen: Du heiratest jetzt deine Kusine. Diese Schwäche kompensieren sie durch Dominanzgebaren – und Gewalt.

Von manchen Eltern wird die Ehe als eine Art Disziplinarmaßnahme verfügt, wenn die Söhne gescheitert sind. Muss das nicht geradezu in einen Teufelskreis führen?

Das stimmt. Die Eltern wollen ihren Sohn verheiraten, damit er lernt, Verantwortung zu übernehmen. Sie setzen dem Jungen keine Grenzen: Also macht der Junge weiter, was er will, und die Eltern tragen noch mehr Verantwortung, weil sie sich nun auch noch um die Ehefrau kümmern müssen. Die Eltern wollen mit ihrer Erziehung ja erreichen, dass aus ihren Kindern gute Bürger werden. Sie wissen es nur nicht besser – dass ihre Art der Erziehung mit einer offenen Gesellschaft kollidiert.

Es gab einmal die Vorstellung, dass sich solche Probleme mit der Zeit von selbst erledigen würden. Warum verschwindet der Ehrbegriff in der Migration nicht einfach?

Manchmal verschärfen sich die Probleme sogar. Wenn die Integration und Partizipation nicht klappt, findet ein Rückzug in die alten Wertesysteme statt. Wer in der Schule oder im Beruf keinen Halt findet, der sucht ihn in der Religion oder im Nationalismus.

Warum gibt es dazu kaum verlässliche Zahlen?

Weil es schwierig ist, etwa über familiäre Gewalt zu reden. Man kann aus den bisherigen Studien Schlüsse ziehen. Aber wir kennen das Ausmaß nicht. Es ist an der Zeit, diesen Fragen nachzugehen. Das müsste eine Forschungseinrichtung leisten, die über die entsprechenden Mittel und Ressourcen verfügt.

Warum tun sich die Männer in der Migration offenbar schwerer als die Frauen?

Es stimmt, die Zahlen legen diese These nahe: Türkische Frauen machen öfter Abitur, schließen öfter die Realschule oder ein Studium ab. Das zeigt: Die Freiheiten, die man den Jungs gewährt, sind kontraproduktiv. Die Mädchen müssen sich ihre Freiheiten über die Bildung oft erst erkämpfen und früher Eigenverantwortung übernehmen. Wenn ein Mädchen Abitur macht, sind auch traditionell denkende Eltern sehr stolz. Dann kann sie auch allein in einer fremden Stadt studieren, ohne mit den Eltern zu brechen.

Brauchen wir neue Gesetze, um Zwangsehen und häuslicher Gewalt vorzubeugen?

Ich bin der Meinung, dass wir mehr soziale Integration brauchen und weniger Paragrafen. Wir müssen intensiv mit den Eltern arbeiten und auch mit den Jungs. Es braucht da ein ganzes Paket von Maßnahmen, wie ich in meinem Buch schreibe. Ich finde es falsch, wenn man sich einzelne Teile davon herauspickt und glaubt, damit wären die Probleme gelöst. Das ist natürlich unpopulär, weil es Geld kostet.

Innenminister Schäuble will Ausländern den Ehegattennachzug erst ab 21 gestatten. Und Sie?

Ich finde es richtig, das Heiratsalter auf 18 festzusetzen. Eine höhere Altersgrenze lehne ich aber kategorisch ab. Und wenn die Frauen nach Deutschland kommen, dann sollten wir ihnen zeigen: Wir wollen, dass ihr euch hier integriert. Dafür sind Deutschkurse wichtig.

Gibt es in türkischen Medien eine Debatte über Ehrbegriff und häusliche Gewalt?

Das Thema wird nicht mehr tabuisiert, und die Öffentlichkeit ist bereit, sich damit auseinander zu setzen. Auch in der Türkei. So widmet sich etwa die Zeitung Hürriyet derzeit in einer Reihe der türkische Machokultur: Da gibt es jeden Tag ein Interview mit einem Experten.

Ist das auch ein Effekt der deutschen Debatte?

Ja. Frauen wie Necla Kelek wurden zwar kritisiert, weil sie so stark verallgemeinert haben. Aber sie haben es geschafft, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.

In der Zeit haben 60 Migrationsforscher die hiesige Debatte um Zwangsehen und insbesondere Frau Kelek kritisiert. Wie sehen Sie den Protest?

Ich fand die Kritik berechtigt, was die Verallgemeinerungen betrifft. Aber der offene Brief war in einigen Teilen unglücklich formuliert und hat zu sehr polarisiert. Deswegen habe ich nicht unterschrieben.

Wird auch in den Moscheen über das Thema gesprochen?

Ich werde oft zu Vorträgen in Moscheen und türkische Kulturvereine eingeladen. Die Leute sind offen, darüber zu reden, und die Nachfrage ist groß: Sogar aus Aschaffenburg bekommen wir Anrufe! Es gibt nämlich hier in Bayern bislang nur ein einziges Projekt dieser Art.

INTERVIEW: DANIEL BAX