Alles Schlampen außer Mutti

Mit den Aposteln der demografischen Apokalypse erlebt die Biopolitik in Deutschland eine Renaissance. Mehr deutsche Kinder für einen vitalen Volkskörper, so lautet ihr Credo. Eine Abrechnung mit dem Neokonservatismus der Chattering Class

Die Fixierung auf eine „demografische Katastrophe“ ist ein deutsches Symptom und keine Diagnose der Gegenwart

VON KATHARINA RUTSCHKY

So oder so scheint alles zur „demografischen Katastrophe“, einer „alternden“ Gesellschaft und ihrer „Kinderfeindlichkeit“ schon gesagt und alle Kosten auf Heller und Pfennig errechnet. Mit dem Genre nationaler Schicksalsbeschwörung befassen sich wieder einmal vorzüglich Männer, mancher schon gar als Prophet des Untergangs; denn mit dem Blick auf das Heer der „Ungeborenen“ (Frauen, Mütter) von vor dreißig Jahren, als der Sturzflug ins Nichts begann, ist die Zeit „uns“ ja schon längst davongelaufen. Warum wird eine sinnlose Debatte dann begonnen, anstatt gut hausfraulich mit dem, was man hat, fantasievoll zu wirtschaften?

Nun ja, es sind eben Männer, die wieder einmal die Verantwortung fürs Große und Ganze beanspruchen und dabei doch nur – in Variationen – der klassischen Männerfantasie von der Kontrolle des Volkskörpers nachhängen, der unfehlbar als weiblicher gedacht wird. Da lasse man sich nicht täuschen von Reverenzen, die etwa Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, den Frauen als den Hütern der Flamme im Überlebenskampf der Gemeinschaft erweist.

Alle Biopolitik zielt auf das Fummeln an Stellschrauben, auch wenn der eigensinnige Volkskörper kein Apparat ist. Deshalb hat die ältere sich auf schlichte Repression verlassen (§ 218), und sich mit einer angeblich höchstnotwendigen Grundsatzdebatte in den Medien nicht lange aufgehalten.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob die Frauen nicht fantasieren, sondern so praktisch und pragmatisch weitermachen, wie es ihnen der Feminismus angesichts der Aufregung um eine kinderlose und alternde Gesellschaft noch vorgibt. Die Staffelübergabe von Renate Schmidt (SPD) an Ursula von der Leyen (CDU) verlief in schönster Harmonie, weil man sich in den Forderungen nach einer familienfreundlichen Arbeitswelt, mehr und kostenlosen Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder sowie Elterngeld darin einig war, dass für die Vereinbarkeit von weiblicher Berufsarbeit mit Familie und Kindern noch viel getan werden müsse. Die Zeiten, wo eine Stewardess nicht verheiratet sein durfte und einer angehenden Studienrätin 1964 in Westberlin wegen Schwangerschaft umstandslos gekündigt werden konnte, sind zwar vorbei – zu tun bleibt trotzdem viel.

Aber die im Hintergrund schimmernde Idee, dass, wenn alles getan ist, Frauen und junge Paare ihre angeblich massenhaft unterdrückten Kinderwünsche nach einem zweiten, dritten oder gar vierten Kind realisieren und damit die leidigen Folgen der Kinderabstinenz beseitigen würden, weckt doch Misstrauen in die fantasiefreie Pragmatik der Frauenpolitik. Dass die Geburtenförderung, kurzum, dann doch die Biopolitik, eine zentrale Aufgabe wäre, scheint inzwischen auch Frauen, die es eigentlich besser wissen könnten, selbstverständlich. Da ist einem zu plötzlicher Popularität gekommenen, naturgemäß konservativen Bevölkerungsforscher wie Herwig Birg doch besser zuzuhören: Alle Gesellschaften, sagt er, die sich rechtlich, sozial und kulturell dem Leitbild der „Individualisierung“ verschrieben haben, bleiben bald weit unter der Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau, die den „Bevölkerungserhalt“ garantiert. An so etwas Großartiges wie die Vermehrung der Nation denkt selbst Birg nicht mehr.

Was sagt „uns“ das – um doch wieder das nationale Kollektiv aufzurufen, an dessen Überlebenswillen die Biopolitik appelliert? Es geht um alles, was uns, die wir das Glück haben, in demokratischen, modernen Gesellschaften zu leben, teuer ist und auch teuer erkämpft wurde: Freiheit und endlich auch Rechte für Frauen und Kinder, Schwule und Lesben, Behinderte und Andersgläubige und Andersfarbige.

Es war immer ein Trick der Konservativen, den Verfall furchtbar gemütlicher Zustände mit hohem Bevölkerungsumsatz (Kinder-und Müttersterblichkeit, Männersterblichkeit wegen Krieg) auf die moralische Geißel des Egoismus zurückzuführen, und man kann, wie die Gegenwart zeigt, in einer Schuldkultur wie der unsrigen damit auch immer noch Eindruck machen. Als ob das Kinderkriegen je ein persönlicher, womöglich nationaler Tugendbeweis gewesen wäre!

Wenn, anders gesagt „individualisierte“ Gesellschaften den Preis einer niedrigen Geburtenrate und einer historisch in der Tat beispiellosen neuen Altersschichtung zu bezahlen haben, wo läge denn die Alternative? Die Attraktion Europas und Nordamerikas für Einwanderer von überall, die oft ihr Leben riskieren und oft verlieren, beim Versuch, eine Zukunft zu gewinnen, liefert doch den besten Beweis dafür, dass „wir“ mit der „Individualisierung“, dem Menschen- und Frauenrechtsfundamentalismus etc. jedenfalls im Prinzip (nicht immer in der Ausführung) auf der richtigen Seite sind. Die Hoffnungen der Armen und Entrechteten der Welt tragen also Gesellschaften, die rundheraus aus dem Bauch der Biopolitik gesprochen – dekadent sein sollen.

Das gesagt, fordert die deutsche Geburtenquote, immer in Parallele zur biopolitischen Regression in der öffentlichen Debatte betrachtet, zur Analyse heraus. Auch wenn man gelernt hat, Statistiken, Umfragen und Dunkelziffern gründlich zu misstrauen, lässt sich nicht bezweifeln, dass eins der reichsten und gewiss sichersten Länder der Welt – wenn auch nur um Dezimalstellen hinterm Komma, verglichen mit Schweden und Frankreich – hinsichtlich der Geburtenquote seit langem ganz unten rangiert. Zusammen mit Deutschland versammeln sich da unten in den Surveys Italien, Japan, Spanien – Portugal und Griechenland sind später noch dazugestoßen: alles Länder, die in ihrer jüngsten Geschichte mörderische, kriegerische, totalitäre und autoritäre Regime durchzustehen hatten. Portugal beeindruckt, weil dort auch Jahrzehnte nach Salazar jede Geburtenregelung tabu ist. Noch lehrreicher das Beispiel des ebenfalls katholischen Spanien. Bis zum Ende der Franco-Diktatur 1974 war nicht nur jede Abtreibung illegal, es galt ein Verbot jedweder Kontrazeptiva und darüber hinaus jeder Beratung zur Familienplanung. Die Geburtenrate sank von 2,8 in den letzten Jahren der Diktatur auf den Niedrigstand von 1,2 in der Demokratie – außerdem hat sich jeder fünfte der heute 45- bis 55-jährigen Spanier und Spanierinnen irgendwann einmal – sterilisieren lassen. Man wüsste schon gern, was Biopolitiker und Konservative zu solchen Daten zu sagen haben. Mein boshafter Vorschlag: Die Demokratie ist die Einbuße an völkischer Substanz nicht wert.

Die Geschichte, den Konservativen sonst so teuer, ist ihnen im Hinblick auf die Bevölkerung, die die Bevölkerungspolitik des alten Nationalstaats zu leben hatte, aber völlig schnuppe und wie nicht gewesen. Der Psychoanalytiker Hartmut Radebold ist einer von vielen, die heute das seelische Schicksal der Weltkriegskinder und damit ihrer Nazi-toleranten und infizierten Eltern im Rahmen familiärer Generationenverträge erforschen.

Radebolds Ausgangspunkt waren jene Kriegskinder (zwischen 1929 und 1945 geboren), die plötzlich, nach einem erfolgreichen Berufsleben im Rentenalter von Panikattacken und unerklärlichen Depressionen überfallen werden und deshalb therapeutische Hilfe nachsuchen. Die Geschichte, die diese unverantwortlichen Kinder des Naziregimes und seines Kriegs erlebt haben, holt sie spät ein. In ihren Erinnerungen, auch in der Ikonografie, sind sie stilisiert als die lustigen Kinder in der Trümmerwelt. Alles war kaputt – aber die Kinder, die waren heil geblieben. Und waren ihre Eltern nicht selbst schon geschädigt durch den Ersten Weltkrieg, auch dieser ein Angriffskrieg, der verloren ging?

Ich kürze ab: Kann jemand im Ernst glauben, dass die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts (mit Abstrichen die der anderen genannten Länder) keine Spuren, keine Wunden und Verwerfungen im Generationenvertrag hinterlassen hat? Der seelische Vertrag, betreffend katastrophische Erfahrungen und ungeheure Schuld, ist bedeutsamer und wirkungsmächtiger als jener, den Adenauer mit der Umlagefinanzierung der Rentenversicherung 1957 ausrief und dessen Nichteinhaltung am Anfang der gegenwärtigen Debatten um die Geburtenquote stand. Die Reflexion darauf erklärt wohl einiges an den Dezimalstellen hinterm Komma, die uns trotz frauen-, kinder- und familienfreundlicher Politik von Ländern wie Schweden und Frankreich unterscheidbar machen.Wie lange hat Schweden, Musterbeispiel für progressive Familienpolitik, keinen Krieg geführt und erlebt? Frankreich war im 2. Weltkrieg zwar zuerst Opfer der deutschen Aggression – stand dann aber auch auf der Seite der Sieger.

Helmut Schmidt, Exkanzler und heute Herausgeber der Zeit, selbst junger Kriegsteilnehmer, hat einmal die Einbuße an Vitalität und spontaner Lebensfreude als eine Folge des deutschen Kriegs benannt. Persönlich – und allgemein.

Fern davon der Rabatz, den ein geschichtsblinder Neokonservatismus heute inszeniert. Die Fixierung auf eine „demografische Katastrophe“ ist anderen, ebenfalls vom Geburtenrückgang betroffenen Nationen, jedenfalls fremd. Sie ist ein deutsches Symptom und nicht, wie man glaubt, eine Diagnose der deutschen Gegenwart. Wie wenig der indiskrete Staat und jede Sozialpolitik das Reproduktionsverhalten des eigensinnigen Volkskörpers beeinflussen kann, erfährt man auch bei Birg, der ansonsten die „Individualisierung“ der modernen Gesellschaft für das deutsche Desaster verantwortlich macht. Der Geburtenboom in der Nazizeit verdankt sich einem Nachholeffekt der Depression. Die DDR, hinsichtlich der Kinderfreundlichkeit viel gelobt, hat auf Dauer trotz vieler Anstrengungen auch nichts erreicht.

Der Volkskörper ist eigensinnig, der deutsche aus historischen Gründen, die Birg natürlich genauso ignoriert wie andere Biopolitiker, ganz besonders. Ich vermute, dass jeder Auftritt von Schirrmacher im Fernsehen, ganz genauso wie einer von Familienministerin von der Leyen, die Geburtenrate weiter senkt wie die sorgenvolle Debatte überhaupt. Der Mann, gebläht vom Pathos des Großen und Ganzen, hier – dort die Frau mit dem Permafrostlächeln, die so tut, als wäre alles klar und verstünde sich von selbst. Keine Rede! So viel auch geplappert wird.