Neue Bündnisse sind nötig

Die aktuellen studentischen Proteste in Frankreich ähneln denen in Deutschland im Jahr 2003. Nur fehlt den Studierenden hierzulande die Unterstützung der Gewerkschaften

Frankreichs Gewerkschaften sind viel stärker auf politische Einflussnahme angewiesen

Jetzt hat in Deutschland wieder einmal die Stunde der Völkerpsychologen geschlagen. Grund sind die Fahnen schwingenden, Parolen skandierenden, zugleich wütenden und ausgelassenen Studentendemos in Frankreich. Vom Hang der Franzosen zur theatralischen Selbstfeier ist die Rede, vom Zelebrieren des republikanischen Pathos, das die Barrikaden der Vergangenheit heraufbeschwört. Von einer konservativen, sich den Zwängen der Globalisierung entgegenstemmenden Jugendrevolte. Schön, herzergreifend, aber hoffnungslos unzeitgemäß. Eben typisch französisch, also unvergleichbar.

Hinter diesem Schleier kulturhistorischer Redensarten drohen die harten sozialen Fakten zu verschwinden, die dem Massenprotest seine Schubkraft verleihen. Und die sind ihrer Tendenz nach keineswegs auf Frankreich beschränkt. Tatsache ist, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der Abiturienten und Studierenden in Frankreich sprunghaft anstieg, dass aber die Zahl der Arbeitsplätze sich nicht entsprechend vermehrt hat. Viele Abiturienten jobben im Niedrigstlohnbereich, viele Diplomierte nehmen Arbeiten auf, die weit unterhalb ihrer Qualifikation liegen.

Eine eigene Wohnung, die Gründung einer Familie können sie sich erst immer später leisten. Der Hintergrund der Studentenproteste des letzten Jahrzehnts ist die zunehmende soziale Unsicherheit, der Verlust einer halbwegs sicheren Lebensperspektive. Dies vor allem unterscheidet die gegenwärtige Protestgeneration von der des Jahres 1968, als das Karrierefeld noch weit geöffnet war.

Man konnte häufig lesen, es gehe bei den Demos weniger um den Inhalt, nämlich die geplante Lockerung des Kündigungsschutzes bei Ersteinstellungen, als vielmehr um die autokratische Form ihrer Durchsetzung. Alles per Dekret, ohne Anhörung der Betroffenen. Mag sein, dass die Selbstherrlichkeit des Premiers de Villepin den Konflikt zugespitzt hat, ursächlich ist sie nicht gewesen.

Studierende wie Oberschüler erfahren früh, dass die Zone der Prekarität der soziale Raum ist, in dem sie sich bewegen werden. Die Angst vor sozialer Deklassierung, vor dem Absturz ist nicht imaginär. Wie es jenseits der Zone der Prekarität, in der Zone der Ausgeschlossenen, aussieht, davon konnten sich die intellektuellen Angehörigen der Mittelschichten in den letzten Monaten überzeugen, beim verzweifelten, ungezielten Aufstand der Chancenlosen in den Banlieues der Großstädte.

Der Massenprotest gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes bei Ersteinstellungen gründet also nicht in einer Klassenmentalität, die wie selbstverständlich einen sicheren, gut bezahlten Job für sich in Anspruch nimmt. Er brach aus als Konsequenz einer Politik, die seit langem die jugendlichen Mittelschichten vernachlässigt, sie nur als Variablen ihrer Wirtschaftspolitik ansieht.

Die Verunsicherung der jugendlichen Mittelschichten grassiert aber nicht nur in Frankreich. Gewiss, die Jugendarbeitslosigkeit innerhalb dieser Schichten ist dort sehr viel höher als in Deutschland. Aber wir sehen, wie auch in Deutschland prekäre Arbeitsverhältnisse in den intellektuellen Mittelschichten generell zunehmen – und dass auch bei uns die Angst nicht ohne politische Folgen bleibt.

Vergleicht man die letzten großen Studentenproteste des Winters 2003/2004 in Deutschland mit den gegenwärtigen Aktionen in Frankreich, so wird klar, dass sie viele Gemeinsamkeiten aufweisen: funktionierende Versammlungsdemokratie, clevere Organisations- und Medienarbeit, effektvolle Aktionen.

In beiden Fällen vertraten die Protestierenden Schichteninteressen, versuchten aber auch, ein gemeinsames Band mit den abhängig Beschäftigten und den Arbeitslosen zu knüpfen. Nur: Während in Frankreich die Gewerkschaften die studentischen Proteste unterstützen, kann in Deutschland davon keine Rede sein. Das erhellt ein Beispiel schlaglichtartig: Bei der Großdemonstration vom 13. 12. 2003 in Berlin waren so gut wie keine Gewerkschafter anwesend, obwohl sie doch als gemeinsame Aktion mit den Studierenden konzipiert war.

Man hat oft konstatiert, dass aufgrund der Sozialpartnerschaftsideologie die deutschen Gewerkschaften prinzipiell streikfeindlich und unpolitisch eingestellt wären. Und in der Tat stehen die Deutschen im 25-Jahres-Vergleich der Streikstatistik an vorletzter Stelle. Frankreich dagegen hat sich trotz des weltweiten Rückgangs der Streiks in der Industrie im Mittelfeld halten können, wobei in letzter Zeit der öffentliche Dienst zunehmend die Speerspitze abgibt. Gerade in diesem Bereich, der auch eine große Zahl „diplomierter“ Beschäftigter aufweist, vollzieht sich eine Annäherung von Intellektuellen und ArbeiterInnen im Rahmen der gemeinsamen Aktion.

Paradoxerweise erklärt sich der französisch-deutsche Unterschied aus dem im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Organisationsgrad der französischen Gewerkschaften und aus ihrer historischen Aufspaltung gemäß der politischen Orientierung. Denn Frankreichs Gewerkschaften sind viel stärker auf politische Einflussnahme angewiesen, auch auf politisch motivierte Streikaktionen, wie eben im Fall der jetzigen studentischen Proteste. Während die deutschen Gewerkschaften das politikfeindliche Streikrecht noch verschärfen, indem ihre Führung den „Rückzug aufs Kerngeschäft“, den Kampf um die ökonomischen Interessen ihrer Klientel, als einzige Kur gegen den Mitgliederschwund propagiert.

Die zunehmende soziale Unsicherheit unterscheidet die heutige Protestgeneration von der im Jahr 1968

Auch hat das an sich positive Konzept der Einheitsgewerkschaft dazu geführt, dass der DGB faktisch unter sozialdemokratischer Hegemonie steht – mit den entsprechenden Folgen, etwa bei der lendenlahmen Beteiligung am Kampf gegen die Hartz-„Reformen“. Aktueller Beweis für die Kluft zwischen den gewerkschaftlichen Verhältnissen in Deutschland und denen in Frankreich ist die Lockerung des Kündigungsschutzes, die CDU und SPD im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Sie geht weit über das Projekt de Villepins hinaus, ohne bislang gewerkschaftliche Gegenwehr hervorzurufen.

Dieser elende Stand der Dinge beginnt sich bei uns zu ändern. Der Ver.di-Streik sorgt für eine Verbesserung unserer Streikbilanz, wenn es auch zu früh ist, von einer „Rückkehr des Streiks“ zu sprechen, wie dies die anarchistischen Freunde tun. Auch hinsichtlich politischer Bündnisse tut sich einiges. Es gibt nicht wenige Gewerkschafter, die ein Bündnis der DGB-Gewerkschaften mit fortschrittlichen, von den akademischen Mittelschichten dominierten Organisationen als ein Mittel ansehen, dem schwindenden Einfluss der Gewerkschaften zu begegnen.

Gewiss, die sozialen wie kulturellen Differenzen zu den Mittelschichtlern sind beträchtlich, aber das waren sie auch in Frankreich. Vielmehr als die Singularität der französischen Ereignisse zu betonen, sollte man mit Marx feststellen: „De te fabula narratur“ – Über dich (Deutschland) wird hier berichtet.

CHRISTIAN SEMLER