Klinsis Kosmos lädt zum Krawall

Der Auftritt eines Selbstgerechten: Nach dem 4:1-Erfolg gegen die USA nutzt der Bundestrainer den gewonnenen Freiraum zu einer allumfassenden Medienschelte. Die soll nicht zuletzt auch dazu dienen, die selbst geschaffene Wagenburg zu festigen

AUS DORTMUND MARKUS VÖLKER

Als Jürgen Klinsmann fertig war, wanderten die Gedanken unweigerlich nach Island. Man entsann sich eines Teamchefs, der auf der kalten Vulkaninsel ausgeflippt war, im September 2003 nach einem schwachen 0:0-Spiel. Der Aggressionsabbau von Reykjavík ist legendär und als Käse-Scheißdreck-Rede in die Fußballannalen eingegangen. Zur Erinnerung an die Völler’sche Brandrede hier noch einmal ein kurzer Auszug: „Delling, das ist eine Sauerei, was der sagt. Die Geschichte mit dem Tiefpunkt, und noch mal ein Tiefpunkt. Da gibt’s noch mal einen niedrigen Tiefpunkt. Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören. Das muss ich ganz ehrlich sagen.“ Jürgen Klinsmann, der direkte Nachfolger von Völler, hat in Dortmund die DFB-Tradition der Philippika fortgeführt. Man hatte stets angenommen, Völler und Klinsmann hätten nichts miteinander gemein, aber eine kleine Verbindung zwischen den vermeintlichen Antipoden scheint es doch zu geben: Was für Völler Delling und Netzer waren, das sind für Klinsmann die Boulevardmedien, gemeinhin Schnüffler aller Art, aufdringliche Rechercheure, Paparazzi, gern auch mal der allzu kritische Schreiber.

Völler hatte es scheinbar mit einem Gegner zu tun, Klinsmann mit einer ganzen Branche, die es versteht, Stimmungen zu lenken und zu manipulieren; das ist nicht nur ein quantitativer Unterschied. Was wäre wohl passiert, wenn die DFB-Elf am Mittwochabend im Westfalenstadion nicht mit 4:1 gegen die USA gewonnen hätte? Hätten die Fußballgurus nicht zum großen Finale geblasen? Und hätte Klinsmann der Kritik, die zum blökenden Bocksgesang angeschwollen wäre, dann noch standhalten können? Die Gurus bleiben nun stumm. Die Bild-Zeitung muss sich zügeln. Klinsmann hat Zeit gewonnen – und mit dem deutlichen Erfolg gegen die Nummer fünf der Weltrangliste reichlich Argumente, um gegen unbotmäßige Medien vorzugehen. Nach dem Spiel gönnte sich Klinsmann denn auch eine ausgiebige Medienschelte. Er sagte all das, was er seinen Kritikern schon immer mal an den Kopf werfen wollte. Er tat das weniger aufgeregt als seinerzeit Völler, vielmehr mit Kalkül und schwäbischer Berechnung.

Klinsmann ist kein Trainer, dem urplötzlich der Kragen platzt. Der Neokalifornier plant seine Schritte und bedenkt die Wirkung seiner Worte. So ist es auch diesmal gewesen, im so genannten Mercedes-Benz-Presseklub, in dem für gewöhnlich die Pressekonferenzen nach DFB-Spielen abgehalten werden. Klinsmann, dessen Äußerungen nach Spielende meist so spannend sind wie alte Torschussstatistiken, der redete diesmal nicht das Spiel seiner Mannschaft schön, sondern Klartext: „Für uns ist dieser Sieg wichtig, um ruhiger arbeiten zu dürfen“, sagte Klinsmann und steigerte dann langsam die Intensität: „Was sich in den Medien abgespielt hat, war teilweise unter der Respektsgrenze. Es hat uns gezeigt, wo die Leute sitzen, die uns nicht so wohlgesonnen sind. Dieses Ergebnis hat uns gut getan, weil wir jetzt gezielt weiterarbeiten können, ohne dass uns immer Knüppel zwischen die Beine geschmissen werden von gewissen Leuten.“

Klinsmann weiß, wie das Geschäft mit den schnellen Schlagzeilen funktioniert, wie populistisch und vergesslich die Kaste ist. Aber wenn sich die Logik der Medienmaschinerie gegen ihn wendet, dann scheint er von einer Amnesie befallen zu sein. Er will die Mechanismen nicht wahrhaben und beantragt Artenschutz, weil er doch mit seinen „Jungs“ und „dem Umfeld“, also all den großen und kleinen Klinsmännern, am nationalen Projekt Fußball-WM-Titel arbeite. Klinsmann ist das klassische Ziel für Spähtrupps. Er arbeitet gern abgeschottet, kultiviert eine hermetische Gruppendynamik, scheint sich bisweilen in Newport Beach zu verstecken und gewährt, wenn überhaupt, nur Günstlingen Einblick in seine Welt. Klinsmann selbst zieht wie selbstverständlich eine Demarkationslinie zwischen innen (Klinsis Kosmos) und außen (Medien), und das ziemlich restriktiv. Die Presse aber ist auf der ständigen Suche nach fließenden Übergängen. Wenn es irgendwo eine Wagenburg gibt, will sie hinein. Das missfällt Klinsmann. Das beanstandet er: „Die Kritik nach dem 1:4 gegen Italien war sicherlich berechtigt im sportlichen Bereich, das war absolut in Ordnung. Aber viele dieser Einwürfe von bestimmten Medien hatten eben mit diesem Spiel in Italien überhaupt nichts mehr zu tun. Und das wissen Sie besser als ich, dass dann Politik gegen einen gemacht wird, die halt zu weit geht, die respektlos ist, die aggressiv ist, die versucht, Stimmung zu machen beim Publikum, um gegen einen zu protestieren. Das hatte ja nichts mehr mit der Arbeit zu tun.“

Klinsmann war noch lange nicht am Ende. Weiter ging es in diesem vorwurfsvollen, bisweilen drohenden Tonfall. Man muss diese Sätze ausführlich dokumentieren, weil sie ein Sonderfall in Klinsmann Rhetorik darstellen, Hinweise auf den echten, unverfälschten Klinsmann liefern. „Die Mannschaft hat heute einfach einen unglaublich guten Teamgeist gezeigt“, sagte er anschließend. „Sie hat Charakter gezeigt. Sie hat gesagt: Das lassen wir uns nicht bieten. Die war bis in die Haarspitzen motiviert, die Truppe. Wir haben von innen heraus gespielt. Das hat Spaß gemacht, weil eine Identifikation da ist im Kreis der Nationalmannschaft. Und diese Identifikation, die wir haben, die kann uns keiner nehmen – auch Leute nicht, die meinen, sie müssten uns immer diese Knüppel zwischen die Beine hauen. Sorry, dass es ein bisserl länger gedauert hat, aber es musste mal raus.“

Es war freilich immer noch genug drin im Klinsmann. Weitere Anklagepunkte stieß er in kleineren Eruptionen heraus, in homöopathischen Dosen – ganz ohne Käse und Scheißdreck und den großen Gestus der Erregung. Das Thema „Schweinsteiger und die Medienschufte“ war nun an der Reihe. Und der Bundestrainer sagte Folgendes: „Die Gruppe hat sich sehr um Basti Schweinsteiger gekümmert. Was hier auf ihn eingeprasselt ist, das ist ja auch jenseits von Gut und Böse. Wir haben ihm gesagt: Du bist in unserem Kreis, du hast bei uns die Ruhe, fühl dich einfach wie ein 20-Jähriger. Du kriegst von uns den vollen Schutz“, berichtete Klinsmann also, um nun zum Kern seiner Kritik vorzustoßen: „Wir haben unglaublich viele Talente in diesem Land, nicht nur die, die jetzt schon Teil dieser Nationalmannschaft sind. Nur müssen wir aufpassen, dass wir uns die eigenen Talente nicht kaputt machen. Wenn es mit dieser Art der Kritik so weitergegangen wäre, dann hätten wir eine Weltmeisterschaft riskiert – durch puren Pessimismus und negative Aggressivität.“

Und weiter: „Das kann keine Mannschaft, die viele 20- und 21-Jährige hat, verkraften. Da wird es mal Zeit, welchen Einfluss ihr, ihr in diesem Raum habt. Man kann alles kaputtmachen, bevor es überhaupt losgeht. Auf dem besten Weg dazu war’n wir. Gott sei dank hat die Mannschaft eine sehr gute Reaktion gezeigt. Da habt ihr euren Teil dazu beigetragen.“ Einige Journalisten lachten nach diesen Worten, sie lachten Klinsmann aus. Die meisten blieben stumm und folgten der Klinsi-Show, dem Auftritt eines Selbstgerechten, gebannt. Zur Abrundung des Abends passte es dann ganz gut, dass der Deutsche einen US-Reporter über seine Vorzüge als Coach aufklärte: „Wenn es ein einfacher Job gewesen wäre, hätte ihn auch ein anderer machen können“, sagte Jürgen Klinsmann. Auf Englisch. In seiner Muttersprache hätte er sich das wohl nicht gewagt. Noch nicht.

Deutschland: Kahn - A. Friedrich (83. Owomoyela), Mertesacker, Metzelder, Lahm - Schneider (67. Borowski), Kehl (83. Ernst), Ballack - Asamoah (67. Neuville), Podolski (46. Schweinsteiger), KloseUSA: Keller - Cherundolo, Berhalter, Conrad, Gibbs (76. Pearce) - Mastroeni (73. Olsen), Convey, Zavagnin - Wolff (17. Klein), Ching (60. Twellmann), JohnsonZuschauer: 64.500Tore: 1:0 Schweinsteiger (46.), 2:0 Neuville (73.), 3:0 Klose (75.), 4:0 Ballack (79.), 4:1 Johnson (85.)