Die Frau, die Hoffnung nährt

Magersucht, Bulimie, Esssucht – für ihre Arbeit mit Essgestörten erhält Sylvia Baeck, die Gründerin des Vereins Dick und Dünn, heute einen Orden

von WALTRAUD SCHWAB

Wer macht nicht gerne eine gute Figur? „Manche bringen sich dafür sogar um“, sagt Sylvia Baeck. Heute verleiht ihr Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, weil sie seit zwanzig Jahren etwas dagegen unternimmt, dass Menschen sich zu Tode hungern. In einer Gesellschaft, in der niemand hungern muss. Zumindest nicht nach Nahrung. Nach Liebe, nach Anerkennung wohl schon. Da fängt das Dilemma an.

Sylvia Baeck hat 1985 den Verein Dick und Dünn gegründet. Damals wurde sie von einer Freundin ins Vertrauen gezogen. Sie war Bulimikerin, hatte regelmäßig Fress- und Kotzattacken. Andere Betroffene betreiben zudem Abführmittelmissbrauch oder treiben exzessiv Sport. Sie bestrafen sich für ihre Gier. Baeck, die bei der Telefonseelsorge arbeitete, war entsetzt, dass ihre Freundin davon betroffen war. „Da muss man was machen.“

Essstörungen wurden in der damaligen Zeit bestenfalls in frauenbewegten Zusammenhängen als ein gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Durch die Enttabuisierung von Körperthemen, durch die Aufdeckung von gesellschaftlichen Zwängen, in denen die Frauen und Mädchen steckten, fiel plötzlich auch ein Licht auf jene, die den normalen Kontakt zum Essen verloren hatten.

Zu Hilfe kam Baeck eine Aktion der Frauenzeitschrift Brigitte. Sie forderte Betroffene auf, zu einem Treffen nach München zu kommen. Ungefähr tausend Frauen folgten dem Aufruf. Es war ein Startschuss. In etlichen Städten gründeten sich im Anschluss Selbsthilfegruppen. Baeck organisierte die Berliner Gruppe.

„Damals galt das Prinzip Versuch und Irrtum“, erzählt Baeck. Kaum jemand konnte Auskunft geben. Dass Essstörungen Krankheiten sind, die medizinische und psychologische Betreuung erforderlich machen, war nicht allgemein anerkannt. In zwanzig Jahren Dick und Dünn wurde das ganze Wissen um Essstörungen zusammengetragen, in Gruppen angewandt, getestet, dokumentiert.

Bis heute hat der Verein 17.500 Betroffene betreut. Dabei hat er alle Schwierigkeiten finanzieller Art, aber auch eine Menge inhaltlicher Differenzen überstanden. „Wir waren von Anfang an offen für Männer“, erläutert Baeck einen der Reibungspunkte. Das wurde nicht immer verstanden, denn Essstörungen gelten als ein Frauenproblem. Ihre Erfahrung spricht dagegen: „Wir haben konstant ungefähr 15 Prozent Männer, die in unsere Beratung kommen.“ Diese Relation spiegelt sozialwissenschaftlich den Anteil der Männer wider, die an Magersucht und Bulimie, also Fress- und Kotzattacken, oder unkontrolliertem Essen leiden. Aber weil die weiblichen Betroffenen in einem sozialen Umfeld leben, geht es nie sie allein an, sondern auch ihre Mütter, Väter, LehrerInnen, Freunde und Freundinnen. Schon deshalb, so Baeck, würde es keinen Sinn machen, Männer nicht zu beraten.

Eine weitere konzeptionelle Differenz: „Wir hatten bei Dick und Dünn von Anfang eine Antidiäthaltung.“ Auch ein Verbot von Süßigkeiten war nicht angesagt. Wo die Einsicht fehlt, nützten Verbote nichts. Und wo es, wie bei den Magersüchtigen, um die perfekte Kontrolle des Essens geht, rennt man mit Verboten offene Türen ein. „Wir sind hier bei Dick und Dünn“, sagt Baeck dann auch und stellt demonstrativ eine Dose Kekse auf den Tisch.

Baeck hat jahrelang als Chefsekretärin gearbeitet. Dass sie den Überblick bewahren kann, kam ihr bei der bürokratischen Bewältigung einer Selbsthilfegruppe, die allmählich in einen Verein überführt wurde, dessen Arbeit anerkannt und zertifiziert ist, zugute. „Wir haben hier bei Dick und Dünn Pionierarbeit gemacht.“

Neben der Arbeit mit Betroffenen unterstützte Baeck bald auch den Aufbau von Gruppen in anderen Städten. Sie schrieb Aufklärungsbroschüren über Essstörungen und stieß die Präventions- und Aufklärungsarbeit an Schulen mit an. Denn vor allem Magersucht, an der in Deutschland etwa 100.000 Menschen leiden, darunter viele Mädchen im Teenageralter, endet für zehn Prozent der Erkrankten tödlich. „Magersucht ist der große Wunsch, alles zu kontrollieren. Aber Magersüchtige haben die Kontrolle über die Kontrolle verloren“, bringt Baeck das Krankheitsbild auf eine Kurzformel. Die Ursachen erkennt sie in gesellschaftlichen Missständen, Modediktaten und Rollenbildern. Sozialwissenschaftler etwa hätten bestätigt, dass schlanke Mädchen und sportliche Jungs in Peer-Gruppen den Ton angeben.

Sie selbst war immer eher pummelig. Der Schlankheitswahn ist bei ihr nicht angekommen. Das Leben der 1948 in Köthen geborenen Baeck spiegelt eher den Wahnsinn des Kalten Krieges von außen als jenen im Innern. Ihre Großmutter siedelte 1957 mit der Enkelin nach Westberlin. Eigentlich wollte die Mutter nachkommen, aber als es so weit war, wurde die Mauer gebaut. Der Vater hatte sich schon Jahre zuvor in den Westen abgesetzt und nicht mehr gemeldet. Dass die Großmutter nach dem Mauerbau von ihrer restlichen Familie getrennt war, verkraftete sie nicht gut. „Ich war traurig, sie war traurig. Wir haben uns nicht helfen können. Das waren schwere Jahre.“ Später, als Westdeutsche endlich in die DDR durften, haben sich Großmutter und Enkelin eine westdeutsche Adresse besorgt und sind jedes Wochenende nach Ostberlin gefahren. „Das war unser Ritual. Voll beladen mit Bananen, Kaffee, Strumpfhosen, Schokolade. Treffpunkt war die Tante im Plänterwald.“

Baeck glaubt, dass diese Erfahrung den Grundstein für ihr soziales Engagement legten. „Ich habe gemerkt, dass man etwas geben kann, auch wenn man arm ist. Manchmal hab ich mir bei meinen Verwandten im Osten die Klamotten ausgezogen, sie meinen Cousinen geschenkt, weil ich merkte, die finden das schick, und bin in deren Kleider zurückgefahren.“

Darauf angesprochen, was sie heute in der Gesellschaft empört, kommt sie wieder auf den Ausgangspunkt ihrer Arbeit zurück. Es empört sie vieles, vor allem aber, wie in unserer Gesellschaft mit Frauen umgegangen wird. „Das hat sich ja kaum geändert.“ Dann erzählt sie von ihren Besuchen an Schulen. Neulich etwa: Zwanzig Mädchen waren in ihrem Kurs. Nach ihrer Einschätzung litten siebzehn von ihnen unter einer Essstörung. Sie fragte die Mädchen, warum sie ihre Körper so traktierten. Weil sie dann die tollsten Jungs abbekämen, antworteten diese. „Ist das der Spiegel der Gesellschaft von heute“, fragt Baeck, „dass Frauen sich zu Tode hungern, wegen der Männer?“

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