„faz“, kinderwünsche etc.
: Eine Tugend und kein Verbrechen

Den Dichter Paul Heyse muss man nicht mehr kennen. Aber eine Einsicht, die er in Verse goss, ist so selbstverständlich geworden, dass man sich doch sehr wundert, wenn kluge Menschen sie ignorieren. Heyse dichtete: „Wenn sich die Sprüche widersprechen, / ist’s eine Tugend und kein Verbrechen. / Du lernst nur wieder vom Blatt zu Blatt, / dass jedes Ding zwei Seiten hat.“ Im Alltag ist das in der Redewendung von den zwei Seiten einer Medaille aufgehoben. In der Soziologie ist die Einsicht allgegenwärtig, man verfolge etwa den Begriff der Ambivalenz. Und in der Politik wollen überall mögliche positive und negative Folgen einer Entscheidung gegeneinander abgewogen sein.

Über die negative Seite des Geburtenrückgangs kann man sich in der FAZ bestens informieren: Stadtentwicklung, Altersaufbau, Rente – da wird es also überall Probleme geben, und kein FAZ-Leser wird sagen können, nichts davon gewusst zu haben. Aber was ist mit der zweiten Seite der Medaille, gibt es eventuell auch mögliche positive Folgen? Nicht jedenfalls in der FAZ. Nun hat sie sogar ausdrücklich die Zeit ausgeschimpft, weil die Wochenzeitung mehr demografische Gelassenheit empfielt als das Frankfurter Zentralorgan der Volkskörperschrumpfungsbeklager.

Interessant wäre, einmal der Frage nachzugehen, warum die FAZ in diesem Fall keine zwei Seiten zulassen möchte. Ist es, weil viele der positiven Aspekte auf der Seite individueller Selbstbestimmungsgewinne liegen? Kann schon sein. Frauen und Männer, die zwischen Lebensentwürfen mit und ohne Kinder wählen können – so etwas passt eben schlecht in die Erzählungen von Geschichte und Verhängnis, von visionären Männern und intellektuellen Großkampflinien, die man in Frankfurt so liebt. Und eine Gesellschaft, in der es nur Wunschkinder gibt, ist in dieser Parallelwelt keine Verheißung. Individuelle Wünsche zählen bei der FAZ sowieso nicht.

So ganz kommt die FAZ dennoch nicht ohne Ambivalenzen aus. Perspektiven, die Geburtenzahlen anzuheben, weiß sie nämlich auch keine. Man kann sogar sagen: Sie treibt dem Kinderthema noch die letzte Sexiness aus. Wie sagt der Herr R. diesbezüglich doch so treffend: Wenn Dr. Schirrmacher auf dem Bildschirm erscheint, sinkt die Geburtenrate … So spielt der FAZ-Herausgeber seiner Gegenspielerin Zeit sogar noch in die Hände.

Wie gesagt, jedes Ding hat seine zwei Seiten. DIRK KNIPPHALS