Durchgeknallt auf Sendung

„Wir sind verrückt im Kopf, aber gesund im Herzen“, sagt der Moderator. „Das Radio ist meine Familie“Viele hier sind schizophren. Ihre Worte finden keine Adressaten mehr außer den Stimmen im Kopf

AUS BUENOS AIRES ANNE HERRBERG

Knirschen. Rauschen. Dazwischen Alfredo, der sich in die braunen Locken greift und am Verstärker ruckelt. Es knackt. Dann endlich ertönt die Eingangsmelodie, eigens komponiert von Manu Chao: „La Colifata LT22, live aus den Gärten der Nervenklinik José T. Borda“. Alfredo strahlt, alle klatschen. Es ist Samstagnachmittag, 14.30 Uhr, Radio La Colifata geht auf Sendung, mit einem Verstärker, drei Mikrofonen und einem CD-Wechsler samt Wackelkontakt. Seit 1991 schon – wenn es nicht regnet.

Die Gärten des Borda sind aus Beton, rechts begrenzt von einem Gefängnis, das freundlicher aussieht als die tristen Plattenbauten des Hospitals selbst. In ihnen leben mehr als doppelt so viele Patienten wie eigentlich vorgesehen. Argentinien hat kein Geld für Nervenkliniken. An einen Garten erinnert höchstens die knorrige Weide gegenüber, an deren Ästen eine angefaulte Schiefertafel mit dem Sendeablauf baumelt. Garcés, der Philosoph, greift zum Mikro: „Unglücklicherweise gleicht die Philosophie des Verrückten der Verrücktheit des Philosophen“, leiert er in die Runde, „Nietzsche war ein Philosoph, der verrückt wurde, ich versuche ein Verrückter zu sein, der philosophiert, denn wer schon nicht zum Leben taugt, der lebt auch nicht, um zu arbeiten.“ Antwort aus der Gruppe: „Du bist verrückt, aber nicht doof.“

So funktioniert La Colifata. Die einen philosophieren, die anderen reißen Witze. Das Wort gehört den Patienten, das Mikrofon ist offen und keiner schreibt vor, was sie damit anfangen. La Colifata ist das wohl erste Radio der Welt, das von psychisch Kranken gemacht wird. Der Name bedeutet im lunfardo-Slang von Buenos Aires so viel wie „durchgeknallt“, aber mit Respekt und einem Augenzwinkern gesagt.

14 Jahre vorher: Alfredo Olivera, ein 24-jähriger Psychologiestudent, arbeitet als Freiwilliger in einer Künstlergruppe mit Patienten des Borda. Eines Tages nimmt er ein Tonbandgerät mit. „Aus persönlichem anthropologischem Interesse“, sagt der Sohn eines linken Journalisten, der als Kind beflissentlich Schimpfworte aufnimmt, um „die Menschen kennen zu lernen“. Nun will er aufzeichnen, was er in der Klinik sieht und hört. Ein lokales Radio erfährt davon und lädt ihn ein, über das Thema „Verrücktsein“ zu sprechen. Das können die Patienten viel besser, erwidert Alfredo und fordert spontan einen regelmäßigen Programmplatz, in dem die Internierten genauso zu Wort kommen wie die Zuhörer. Und plötzlich haben die Verrückten aus dem Borda eine eigene Sendung.

Als Alfredo die Patienten fragt, über was sie mit den Leuten sprechen wollen, sagt der Erste, „ihnen auf die Eier gehen“ und der Nächste „bring mir die Eier, dann geh ich drauf“. Schließlich meint einer: „Mich würde bitte interessieren, warum Frauen so komische Vögel sind.“ Alfredo grinst: „Ein halbes Chaos brach aus. Aber wir hatten das Thema unserer ersten Sendung: Frauen. Übrigens etwas, das es im Borda nicht gibt.“

Ein Jingel ertönt: „Rompiendo Muros – Mauern durchbrechen, Brücken bauen.“ Wie jeden Samstag mischen sich auch heute an die 20 Besucher unter die rund 40 Colifatos, Freunde, Verwandte oder Neugierige. Ihre Gesichter lassen Interesse erkennen, aber auch Unsicherheit gegenüber dieser Welt – in der der 70-jährige Hugo Lopez sein Lied „Ich bin böse und liebe es, Hunger und Krankheit zu verbreiten“ Georg W. Bush widmet, während Eduardo mit der Baseballkappe Shiatsu macht, um sich für die Sendung aufzuwärmen.

Der offizielle Moderator heißt Miqui. Er hat im Falklandkrieg eine Kugel in den Kopf bekommen, dann eine Stahlplatte. Dann erhielt er die Nachricht, seine Freundin habe sich mit seiner Pistole erschossen. „La Colifata ist mein Familie“, sagt er, „wir sind zwar verrückt im Kopf, dafür sind wir gesund im Herzen.“ Dann beginnt Néstor zu singen, der bereits seit zwölf Jahren in La Colifata ist: „Der Mensch lebt am Rand eines Abgrunds, manchmal stürzt er hinein, fällt immer tiefer, weil es nichts mehr gibt, das ihn hält.“

Solche Momente meint Alfredo, wenn er sagt, dass La Colifata gegen das soziale Stigma der Verrücktheit arbeitet. Denn viele assoziierten damit pauschal erst mal Gefahr oder das genaue Gegenteil: Genialität. „Klar, das gibt es“, sagt Alfredo, aber in erster Linie sei es eine psychische Krankheit, großes Leiden und Schmerz. „Das ist meist tabu“.

Bei der Organisation helfen drei Psychologinnen und Carlos, Techniker, Animator und Jogginghosenträger. Alfredo sitzt an den Reglern des Studios. Er ist ein sensibler Beobachter im Hintergrund, nur selten mischt er sich ein. Jetzt aber muss er tätig werden: Ever, der Bolivianer, macht eine Schalte – vom Himmel. Schmerz gäbe es dort nicht, berichtet der mit quakender Stimme, Liebe auch nicht, und Kinder nur in Schwarz-Weiß, denn Farbfernsehen sei ihm den Besuch bisher schuldig geblieben. Wie der kleine Mann mit der Wollmütze und den unangeschlossenen Kopfhörern im Ohr ins Borda gekommen ist, weiß niemand so genau. „Mir fehlen Hubschrauber“, fährt Ever fort, „Autos habe ich, Farbe Grün, Boxautos. Die boxen mich zurück ins Borda.“ Alfredo hakt nach „Was ist das Borda“ – „ein Krankenhaus für Verrückte“ – „Bist du verrückt?“ – „Nein, ich doch nicht“ Ever kichert, Alfredo auch.

Manchmal klingt Colifata wie Poesie, doch Evers Absicht war das nicht. Er ist schizophren, wie viele hier, hat eine gravierende Fehlfunktion der Sprache. Worte verlieren ihren Sinn, es gibt keinen Adressaten mehr, außer den eigenen Stimmen im Kopf. La Colifata arbeitet mit diesem Delirium, nutzt es, dreht es um. Alfredo erklärt: „Das Radio schafft reale Kommunikation, die verändert.“ Plötzlich entstehen Zusammenhänge, Sprache erlangt wieder einen Sinn. „Das kann beim Patienten einen therapeutischen Effekt haben.“

Die Zahlen beweisen, dass die Idee funktioniert. Mehr als ein Drittel der ehemaligen Colifatos wurde inzwischen aus der Klinik entlassen und haben sich – was weit wichtiger ist – auch dort gehalten. Viele sind trotzdem jeden Samstag da. Sie nutzen das Radio als ambulante Therapie oder als Refugium.

Zum Beispiel der 24-Jährige Jagger. „Hier kann ich alles rauslassen, was mir den Kopf verstopft“, sagt er. Draußen hat er nichts und niemand. Keine Familie, keine Arbeit, kein Dach über dem Kopf. Nur eine Drogenvergangenheit.

Die Beschäftigten im Hospital kümmern sich nicht um solche Hintergründe. Ein Gang durch die Pflegestationen erklärt, warum das so ist. Die Zimmer sind übervoll belegt. Es stinkt nach Fäkalien, Schimmel und billigen Zigaretten. Oft gehen die Medikamente aus.

Ein Patient startet daher im Radio einen Aufruf: „Guten Abend, ich bin interniert auf der Station 1422. Weil es heute Nacht es wieder kalt wird und wir HIV-krank sind, möchte ich sagen, es gibt keine Heizung, keine Wolldecken, das Essen ist ungekocht und Ausgang hatten wir diese Woche auch nicht. Eine Lösung gibt es vorerst nicht, falls jemand trotzdem etwas tun kann, vielen Dank.“

La Colifata hat kein Geld, aber ein Programm, das von mehr als 50 Sendern verbreitet und von mehr als sieben Millionen Menschen gehört wird. Und viele belassen es nicht beim Zuhören. Die einen schicken Glückwünsche, andere Kleidung und Lebensmittel und einer einen alten Citroën „2 Chevaux“. Die Ente wurde umfunktioniert, zum Mobil Colifato mit Bordstudio.

Seitdem knattern die Colifatos durch Buenos Aires und berichten live vor Ort. Heute aus dem Teatro Colón, in dem der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim spielt. Nur leider ist die Leitung so schlecht, dass man kaum etwas mitbekommt.

Das mit Abstand tollste Geschenk kam aus Bariloche, 1.500 Kilometer südlich der Hauptstadt: Eine Reise ins Naturparadies Patagonien. Es war der erste Urlaub seit Jahren für 22 Internierte des Borda. Und die fahren nicht mit leeren Händen. In einer aufwändigen Höreraktion sammeln sie vorher Spielzeug, Kleidung und Schuhe für Straßenkinder in Bariloche. Colifata Solidaria. Die Idee kam von den Patienten, viele von ihnen sind selbst auf der Straße aufgewachsen.

Heute ist Radio La Colifata im Äther und im Netz, auf Rädern und mit Spenden unterwegs. Seit zwei Jahren haben sie auch ein kleines TV-Programm.

Sieben Uhr abends, die grauen Gärten des Borda werden langsam dunkelgrau. Alfredo putzt die Programmtafel und sammelt die Mikrofone ein. Für heute ist Sendeschluss. Nach fünf Stunden Gesundheits-Radio sieht der Direktor erschöpft aus. Garcés, der Philosoph, ist es nicht. „Alles geht besser, alles geht frischer“, kräht er aufgekratzt, „mit diesem Borda bekommt das Leben mehr Geschmack.“