Mehr als nur Nein

Der wankelmütige und sich verweigernde Wähler im Osten zeigt die Zukunft der Republik

In der politischen Rhetorik taucht der Nicht-Wähler stets nur als defizitärer Trauerkloß auf

VON STEFAN REINECKE

Der 26. März 2006 dürfte in die politische Geschichte der Republik eingehen. Zum ersten Mal gibt es eine Landesregierung, der die Wähler im Grunde die Legitimation verweigert haben. In Sachsen-Anhalt haben sich 56 Prozent gegen diese Wahl entschieden. Die künftige Regierung von CDU und SPD hat nur jeder Vierte in Sachsen-Anhalt gewählt. In Magdeburg wird künftig wohl eine große Koalition regieren – ganz kleine Koalition wäre treffender.

Wenn über die Hälfte der Bürger einfach nicht mehr mitspielt, ist das ein Alarmsignal für das politische System. Was ist schief gelaufen? Das Einfachste ist es, Sachsen-Anhalt und den Osten überhaupt zum Sonderfall zu erklären. Im Osten sind die Bindungen an die Parteien bekanntlich lockerer. Die Milieus, aus denen die Parteien im Westen ihren Sinn und ihr Selbstverständnis beziehen, sind dort labiler und diffuser. Der Ost-Wähler ist als notorischer Wechselwähler bekannt und versteht es, zum Ungemach von Wahlforschern und Umfrageinstituten, sich der hochsensiblen Apparatur der Demoskopie immer wieder geschickt zu entziehen.

So ist es – aber das ist kein Grund zur Selbstberuhigung. Das leicht mürrische, schwer berechenbare Wahlverhalten des Ost-Bürgers mag darin wurzeln, dass er zu den 1990 aus dem Westen importierten Parteien bis heute keine belastbare, stimmungsresistente Bindung entwickelt hat. Doch die Mentalität des Ost-Wählers ist keine Altlast, die im Zuge der erfreulichen Erfahrung mit der parlamentarischen Demokratie verdunstet. Im Gegenteil: Der wankelmütige Ost-Wähler ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft der Republik.

Auch im Südwesten sind noch nie so wenige Bürger zu Landtagswahlen gegangen. Die Wahlbeteiligung sinkt dort sukzessive: In Baden-Württemberg von 72 Prozent 1988 auf 53, in Rheinland-Pfalz von 77 Prozent 1987 auf 58. Die klassischen Milieus, das konservativ-klerikale der Union und kleinbürgerlich-proletarische der SPD, existieren zwar noch, verlieren aber an Bedeutung. Und an Eindeutigkeit. Dass der Sozialdemokrat Kurt Beck nun alleine das eher konservative Rheinland-Pfalz regiert, zeigt, dass die Traditionsbindungen ausfransen. Auch in Baden-Württemberg gelten nur noch 28 Prozent der Bürger als Stammwähler – kaum mehr als in Sachsen-Anhalt (21 Prozent).

Die politische Klasse beugt sich nun verständlicherweise besorgt über den Nicht-Wähler. Die parlamentarische Demokratie fußt darauf, dass die Mehrheit mitmacht und sich weder von Regenwetter noch von der Umstellung auf die Sommerzeit von seiner staatsbürgerlichen Pflicht abbringen lässt. Wenn die Bürger einfach zu Hause bleiben, werden die Politiker nervös.

Das übliche Mittel lautet, den Delinquenten die Folgen ihres Tuns vor Augen zu führen. Wer nicht wählt, verzichtet auf Einfluss und braucht sich später nicht beklagen, wenn ihm etwas nicht passt. Dieses Argument ist völlig richtig – und nutzlos. Wir wissen zwar nicht viel über den Nicht-Wähler, aber er scheint ziemlich immun gegen alle Arten von staatsbürgerlicher Ermahnung zu sein. Vermutlich kennt er die meisten Argumente, die ihn zum Gang an die Urne bewegen sollen – und geht trotzdem lieber im Regen spazieren. Wer ihn verstehen will, sollte auf den erhobenen Zeigefinger verzichten. Zudem sollte man von der Rhetorik lassen, in der der Nicht-Wähler stets nur als defizitärer Trauerkloß auftritt – als jemand, dem politischer Durchblick fehlt und dem auf die Sprünge geholfen werden muss. Denn er ist eine durchaus pragmatische Figur, die situativ entscheidet. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel haben viele, die vorgestern nicht gewählt haben, vor sechs Monaten sehr wohl ihre Stimme abgegeben. Die Beteiligung bei der Bundestagswahl lag dort mit 71 Prozent nur knapp unter Bundesdurchschnitt (77).

Es bringt daher wenig, die massenhafte Wahlenthaltung als irrational zu denunzieren (zumal der Nicht-Wähler in Magdeburg vor allem die DVU in die Verzweiflung getrieben hat). Wir haben es nicht mit einem Störfall zu tun, der mit Aufklärungskampagnen über das Wesen des föderalen Parlamentarismus zu kurieren ist, sondern mit einer realistischen, resignativen politischen Meinungsäußerung.

Der Nicht-Wähler beantwortet eine schwierige Frage leicht unterkomplex. Nämlich: Was kann Landespolitik, eingezwängt zwischen Bund, EU und Kommunen, zwischen Sparzwängen und Haushaltslöchern, noch tun?

In Sachsen-Anhalt haben 56 Prozent geantwortet: nichts. Das kann man falsch finden. Unverständlich ist es in einem Land, in dem die Politik ratlos der Spirale von Abwanderung und Arbeitslosigkeit zuschaut, aber keineswegs.

Kurzum: Dass fast die Hälfte der Bürger auch im Westen nicht mehr wählen will, ist nicht das Problem, sondern nur das Symptom eines strukturellen Defekts. Landtagswahlen sind zu ewigen Probeläufen für den Bund geworden, in denen die jeweilige Gegenregierung im Bundesrat ihre Bataillone verstärkt. Diesmal fehlte, angesichts der großen Koalition, diese Überformung – prompt rutschte die Wahlbeteiligung noch mehr in den Keller.

Was tun? Ganz pragmatisch kann man sagen: Dem Gros der Bürger leuchtet der Sinn von Bundestagwahlen ein, bei Landtagswahlen ist das stetig weniger der Fall. Warum also nicht Bundes- und Landtagswahlen auf einen Termin legen? In jedem Fall ist es klug zu fragen, was der Nicht-Wähler will. Offenbar glaubt er nicht, dass in den Ländern Wesentliches entschieden wird. Vielleicht will er, dass der Kompetenzdschungel zwischen EU, Bund und Land gelichtet wird – wobei Zweifel erlaubt sind, ob ihn die derzeitige Föderalismusreform zufrieden stimmen wird.

Der Nicht-Wähler 2006 ist jedenfalls besser als sein Ruf. Er ist auch kein bloßes Zeichen für „Entpolitisierung“. Politik ist die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen. Das tut der Nicht-Wähler – und entscheidet sich, ob er diese Wahl für wichtig oder unwichtig hält. Seine Geste ist die des enttäuschten Rückzugs. Auch das ist eine politische Geste.