„Wir sind zu einer normalen Demokratie geworden“

Parteienforscher Jesse hält die geringe Wahlbeteiligung nicht nur für übel. Vor allem die große Koalition hat die Bürger zu Hause bleiben lassen

taz: Herr Jesse, in allen drei Bundesländern, in denen am vergangenen Sonntag gewählt wurde, ist die Wahlbeteiligung gesunken, in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg sogar dramatisch. War es wirklich das schlechte Wetter am Wahltag?

Eckhard Jesse: Das Wetter war’s garantiert nicht. Das war nicht überall schlecht. Außerdem machen heute schon 15 Prozent aller Wähler Briefwahl. Da spielt das Wetter eh keine Rolle. Zumal es nicht zwingend heißt: gutes Wetter, hohe Wahlbeteiligung. Es gibt ja auch Menschen, die bei schlechtem Wetter ihren Ausflug absagen, dafür aber mal eben ins Wahllokal gehen.

Woran hat es dann gelegen?

Es sind mehrere Faktoren. Zum einen sind Landtagswahlen Nebenwahlen im Vergleich zu den Bundestagswahlen. Da ist die Wahlbeteiligung immer wesentlich geringer. Außerdem haben wir eine große Koalition in Berlin. Keine der beiden großen Parteien in den Ländern konnte sich gegen die andere profilieren. Die Folge war: Wir haben einen gedrosselten Wahlkampf gehabt und die Wähler sind zu Hause geblieben.

Das allein erklärt, warum 55 Prozent aller Wahlbeteiligten in Sachsen-Anhalt nicht wählen gegangen sind?

Zugegeben, bei den Zahlen für Sachsen-Anhalt bin ich selbst überrascht. Da hätte ich mit einer Wahlbeteiligung von knapp über 50 Prozent gerechnet. Jetzt ist sie noch wesentlich geringer. Das kann nicht nur daran liegen, dass sich CDU und SPD im Wahlkampf nicht angegriffen haben. Das hängt auch mit dem Desinteresse vieler Wähler im Osten zusammen.

Trotz der speziellen Situation im Osten ist es doch ein Schlag ins Gesicht für die Demokratie, wenn in Sachsen-Anhalt weniger als die Hälfte der Bürger wählt – oder?

Ich sehe die geringe Wahlbeteiligung nicht nur negativ. Wir sind nicht mehr in den 50er-Jahren. Damals gehörte das Wählen zur staatsbürgerlichen Pflicht. Das hat sich geändert. Die Leute sagen jetzt: Keine der Parteien spricht mich an, also gehe ich nicht mehr wählen. Demokratie bedeutet ja auch, sich nicht entscheiden zu müssen, sich raushalten zu können. Wir sind zu einer normalen Demokratie geworden. Deswegen halte ich Vorschläge, eine Wahlpflicht einzuführen, für ein Armutszeugnis.

Viele sagen, eine geringe Wahlbeteiligung schadet den großen Parteien und stärkt die Ränder. Aber weder die WASG ist im Westen in die Landtage gekommen noch die DVU im Osten.

Man kann diese These eben nicht so aufstellen. Parteien an den Rändern des politischen Spektrums wie die DVU profitieren nur davon, wenn viele aus Protest zur Wahl gehen und sagen: Ich zeig’s den anderen Parteien, ich wähle DVU. Aber die Leute in Sachsen-Anhalt haben nicht die Schnauze voll. Die haben den Eindruck, dass es aufwärts geht, wenn auch langsamer, als sie es sich wünschen.

INTERVIEW: MAURITIUS MUCH