„Die kleine Kopfpauschale ist extrem ungerecht“

Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte und SPD-Politiker, plädiert für ein Gesundheitssystem, das stärker durch Steuern finanziert wird

taz: Herr Lauterbach, Matthias Platzeck hat klar gemacht, was mit der SPD nicht drin ist: keine Kopfpauschale, kein Einfrieren des Arbeitgeberanteils, kein Leistungsminus für die Patienten. Kriegt die SPD das durch?

Karl Lauterbach: Ja. Eine Kopfpauschale, egal ob klein oder groß, ist in der SPD schlicht nicht durchsetzbar. Das kann man weder der Basis noch der Fraktion verkaufen.

Auch keine 15 Euro Kopfpauschale?

Nein. Diese so genannte kleine Kopfpauschale ist besonders gefährlich. Denn die wird der Container für alle künftigen Kostensteigerungen, die dann ausschließlich zu Lasten der Versicherten gehen. Das ist extrem unsozial.

Was spricht gegen das Einfrieren des Arbeitgeberanteils? Auch die SPD will doch die Arbeit billiger machen.

Aber nicht so – nicht indem alle Kostensteigerungen einseitig den Arbeitnehmern aufgebürdet werden. Denn dann werden künftig alle Lohnerhöhungen ganz oder anteilig aufgefressen. Das würde die schwache Binnennachfrage noch verschärfen. Daher sind Platzecks Vorschläge hier hilfreich.

Aber damit sagt Platzeck zu allem, was die Union will, nein. Oder?

Nein. Die Union hat auch vernünftige Ideen.

Zum Beispiel?

Derzeit wird die Finanzierung der Gesundheitsversorgung der Kinder vor allem von den gesetzlich Versicherten geleistet. In der Union wollen manche dies über eine Steuer, den Soli, finanzieren. Das ist sinnvoll.

Aber auch in der SPD warnen viele, dass den Bürgern nicht Mehrwertsteuer und Soli zumutbar sind. Verständlich, oder?

Nein, finde ich nicht. Wenn der Soli kommt, werden doch im Gegenzug die Beiträge für die Kassen gesenkt.

Wenn sich so wenig ändert – wozu dann der Soli?

Wenn 1 oder 2 Prozent des Bruttoeinkommens für die Krankenversicherung der Kinder abgezweigt werden, belastet das die Reichen stärker. Das ist sinnvoll – gerade nach den Senkungen des Spitzensteuersatzes in den letzten Jahren.

Kanzlerin Merkel hat gesagt, sie wolle das Gesundheitssystem auf „eine breitere Basis stellen“. Das klingt wie ein Schritt Richtung SPD. Was meint Merkel damit?

Das wird sich in den Verhandlungen zeigen. Was keinesfalls mit breiterer Basis gemeint sein darf, ist, dass bei den gesetzlich Versicherten künftig, neben Lohn oder Rente unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze, auch noch Zins- und Kapitalerträge herangezogen werden – während sich bei den privat Versicherten und den Beamten nichts ändert. Das wäre inakzeptabel.

Die SPD will, dass Beamte und Selbstständige in die gesetzlichen Kassen gehen – die CDU will das nicht. Wie kann da ein Kompromiss aussehen?

Die SPD will ein System für alle. Die CDU beharrt auf einem geteilten System: eines für die Privilegierten, eines für den Rest der Bevölkerung. Wenn wird die Bürgerversicherung nicht durchsetzen können, müssen wir wenigstens erreichen, dass die Privilegierten das System der Normalbevölkerung mitfinanzieren. Wenn alleine das gesetzliche System für die Behinderten, die Arbeitslosen , die Sozialhilfeempfänger und die Einkommensschwachen aufkommt, wird das System unbezahlbar werden.

Wie wird der Kompromiss aussehen?

Es wäre unklug, jetzt darüber im Detail zu spekulieren. Das würde den Verhandlungen nicht nutzen.

Warum brauchen wir diese Reform?

Weil sonst das Defizit der Krankenkassen erneut explodiert. 2007 fehlen ihnen 7 Milliarden Euro. Die Ärzte fordern 30 Prozent mehr. Wenn sie sich durchsetzen, fehlen sogar 10 Milliarden. Und das wird sich noch verschärfen, weil die Babyboomer zukünftig in Rente gehen und auch die Zahl der chronisch Kranken in ihren Reihen deutlich steigen wird. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Beitragszahler. Das hat demografische Gründe – und wird durch die Abnahme von sozialversicherungspflichtigen Jobs und die Zunahme von Selbstständigen und Scheinselbstständigen noch verschärft. Außerdem wandern Gutverdienende von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung ab.

Klingt finster. Was ist die Lösung?

Wenn wir die Leistungen nicht drastisch reduzieren wollen, was ich ablehne, müssen wir das System mit mehr Steuern stabilisieren. Löhne und Gehälter können wir nicht noch mehr belasten. Wir müssen einen Schritt Richtung Skandinavisierung unseres Gesundheitssystems gehen.

Für Arzneimittel wurden 2005 26 Milliarden Euro ausgegeben, Tendenz steigend. Alle reden über Kostendämpfung, aber kaum jemand über die Pharmaindustrie.

Das wäre unbedingt nötig. Die Arzneimittelindustrie hat 2005 18 Prozent mehr Umsatz gemacht – für die gleiche Versorgung. Diese 18 Prozent haben mehr gekostet, als die gesamte Praxisgebühr in die Kassen gebracht hat. Ohne Strukturreformen wird die Ausgabenexplosion weitergehen. INTERVIEW: STEFAN REINECKE