Schule ohne Chance

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER
UND TORSTEN GELLNER

Es ist eine Kapitulation. Und eine Premiere. Zum ersten Mal hat eine deutsche Hauptschule die weiße Fahne gehisst. Probleme mit der untersten deutschen Schulform gab es immer. Doch so weit wie das Kollegium der Rütlischule im Berliner Problembezirk Neukölln ging noch niemand.

„Wir sind ratlos“, klagen die Lehrer dort. Die Stimmung sei aggressiv und intolerant. Respekt gelte nicht den Lehrern, sondern Schülern, die sich als Intensivtäter profilieren. So steht es in einem Brief des Kollegiums (siehe unten).

Vom zuständigen Schulsenator Klaus Böger (SPD) erwarten die Lehrer in einem beispiellosen Akt Folgendes: Sie bitten einstimmig um die Auflösung ihrer Schule. Dass die Schule wieder gegründet wird, stört die verzweifelten Pädagogen nicht – aber dann bitte in neuer Schulform und mit gänzlich neuer Zusammensetzung. 80 Prozent der Schüler sind nichtdeutscher Herkunft.

Die Reaktionen in Berlin waren die üblichen, wenn eine der deutschen Restschulen umkippt: Ab heute werden die Problemschüler von Polizisten gefilzt, bevor sie in den Unterricht dürfen. Die örtliche CDU erwartet routinemäßige Polizeikontrollen. Und Senator Böger (SPD) beeilte sich zu versichern, die Probleme an der Schule würden jetzt schnell gelöst.

Die in den Ruhestand geflüchtete Schulleiterin soll ersetzt und ein zusätzlicher Sozialarbeiter abkommandiert werden, der des Arabischen mächtig ist. Böger will sogar erfüllen, was sich die LehrerInnen so sehnlich wünschen: keine Hauptschule mehr sein zu müssen. Die Rütli soll mit der benachbarten Realschule fusionieren. Allerdings weigerte sich Böger, die Systemfrage zu stellen: „Ich sehe das Modell Hauptschule weiterhin als Chance.“

Wie er auf diese Idee kommt, ist Bögers Geheimnis. Unter Experten gilt die Hauptschule längst als hoffnungsloser Fall. Die Schulform beherbergt zwar bundesweit noch ein Fünftel eines Jahrgangs. In Berlin und Hamburg aber gehen gerade noch 11 Prozent auf die Restschule. „Das sind die Schulen der Gescheiterten“, sagte Berlins GEW-Referent Norbert Gundacker.

Seit den Pisastudien ist die Sicht auf die Hauptschule noch klarer geworden – und ihre Existenz noch unhaltbarer. In Hauptschulen sammeln sich, so hat die Untersuchung ergeben, rund 55 Prozent derer, die kaum oder gar nicht lesefähig sind. Zum Vergleich: In Gesamtschulen liegt der Anteil an funktionalen Analphabeten und Schlechtlesern bei 28 Prozent, in Gymnasien bei 0,7 Prozent. Die kognitive Mischung der Hauptschule hat System: Schließlich sortiert die deutsche Schule gezielt schlechte Schüler und konzentriert sie dann in Hauptschulen – eine weltweit einmalige Pädagogik.

Außer den Hardlinern unter den Unions-Kultusministern will eigentlich niemand mehr an der Hauptschule festhalten. So sagte die Vizechefin der Bundes-GEW, Marianne Demmer, der taz, die Hauptschulen in Problembezirken müssten sofort aufgelöst werden. „Sonst kann man die Probleme dort bald nicht mehr kontrollieren.“

Diese Ansicht der GEW-Kämpferin ist nicht neu. Dass mit dem Jenoptik-Aufsichtsrat Lothar Späth, dem Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo Hans-Werner Sinn und dem Chef des VDI in Niederbayern, Christoph von Braun, auch die Wirtschaft die Hauptschule lieber heute als morgen abschaffen will, macht nun selbst Schulminister der Union unruhig.

Hamburgs Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) hat eine Kommission gebeten, sich Gedanken über die Schulen der Hansestadt zu machen. Ziel soll sein, ein zweigliedriges System vorzulegen. Im Klartext heißt das: Die Hauptschule soll abgeschafft werden.