Einblicke in den ungeschminkten Schulalltag

Der Protest des Kollegiums der Rütli-Schule ist mediengerecht: Scharenweise drängen sich Journalisten vor der Schule. Davon provoziert, werfen einige Schüler Steine und Äste – und bestätigen damit das Klischeebild von Neukölln

Seit dem frühen Morgen ist die Rütli-Hauptschule in Neukölln von Journalisten und Kamerateams belagert. Nachrichten aus Neukölln verkaufen sich gut. Je härter, umso besser. Der Mord an einem Polizisten vor knapp zwei Wochen geschah ebenfalls in Neukölln.

„Notruf aus Neukölln – Leiterin der Rütli-Hauptschule fordert die Schließung“: Diese Schlagzeile einer Zeitung hat die Presse gestern angelockt wie der Misthaufen die Fliegen. Solche Reaktionen habe er befürchtet, sagt der Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD). Er bemüht sich vor Ort um Schadensbegrenzung. „Die Auflösung der Schule ist von den Lehrern überhaupt nicht gefordert worden“, betont er.

Irgendwann im Laufe des Vormittags sammelt sich hinter dem Schulzaun eine Gruppe Schüler und bewirft die auf der Straße herumlungernden Journalisten mit Erdbrocken, Steine und Ästen. Die Kamerateams filmen dankbar. „Wenn diese Bilder gesendet werden, wird es heißen: ‚Seht her, was für tierähnliche Menschen in Neukölln leben‘ “, ist sich Buschkowsky sicher. Mit keinem Wort werde erwähnt werden, dass die Schüler von dem Medienaufgebot förmlich provoziert worden seien. Wenig später erscheint tatsächlich eine Meldung einer Nachrichtenagentur, die mit dem Satz beginnt: „Nach dem Pausengong fliegen die Steine.“

In einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz kündigt Bildungssenator Klaus Böger (SPD) am Mittag dann an, dass die Rütli-Schule angesichts der dort eskalierenden Gewalt eine Polizeikontrolle an den Eingang bekommt.

Der Neuköllner Bildungsstadtrat Wolfgang Schimmang (SPD) sagt, die Rütli-Schule sei kein Einzelfall. Eine hohe Gewaltbereitschaft unter den Schülern sei typisch für Schulen in sozialen Brennpunkten. „Das Ungewöhnliche am Fall Rütli-Schule ist, dass die Lehrer den Schulalltag in ungeschminkter Form veröffentlicht haben.“ Eine Auflösung der Schule, die von rund 250 Schülern besucht wird und einen Migrantenanteil von 83 Prozent hat, sei keine Antwort auf das Problem. Denn dann müssten viele Schulen aufgelöst werden. „Wir müssen aus der Haupt- eine Ganztagsschule machen“, fordert Schimmang. So ein Umstrukturierungsprozess dauere aber zwei bis drei Jahre.

Als kurzfristige Maßnahme wird die Rütli-Schule laut Schimmang drei Sozialarbeiter erhalten. Der erste, ein arabisch sprechender Pädagoge, sei bereits eingestellt worden. Ein türkischer Kollege solle bald folgen. Eine weitere Idee sei, die Schülerfrequenz pro Klasse – jetzt 16 bis 23 Schüler – auf 15 Schüler zu senken. An der Zusammensetzung der Schülerschaft sei aber nichts zu ändern: „Man kann nicht nach ethnischer Herkunft sortieren.“ In der Rütli-Schule hat die Mehrheit der Schüler einen arabischen Migrationshintergrund.

Wie verfahren die Situation ist, zeigt das Beispiel eines Dokumentarfilms über Homosexualität, den sechs Schüler gedreht hatten und der von einer bundesweiten Initiative ausgezeichnet worden ist. Gezeigt wurde er an der Schule allerdings nicht: Die Macher hätten Angst vor den Reaktionen ihrer Mitschüler, berichtet Ümit Gürkan Buyurucu, der das Filmprojekt betreut hat.

PLUTONIA PLARRE