Mehr Muße wäre gut

Die alten Begriffe taugen nicht mehr: eine Tagung zu Literatur und Arbeit in Dortmund

Dortmund-Bövinghausen, Zeche Zollern II/IV. Den Tag über laufen viele Besucher über das Gelände, meist Gruppen älterer Männer mit leicht gebeugtem Rücken. Sie folgen den Führerinnen, die mit schauspielerischem Geschick den Ort lebendig zu machen versuchen. In der Lohnhalle spielen sie die Frauen nach, die ihre Männer abzupassen versuchen, um ihnen die Lohntüte abzunehmen, bevor alles Geld der Woche in einer der zahlreichen Kneipen der Umgebung vertrunken ist. Ihre Stimmen hallen in dem hohen Gebäude. In den Rundbögen der Decke sind Verse aus Schillers „Glocke“ zu lesen: „Arbeit ist des Bürgers Zierde / Segen ist der Mühe Preis“. So ließ sich einst das Warten auf die Lohntüte mit ein wenig Literatur versüßen.

Die Zechengebäude sind in den letzten Jahren mit immensem Aufwand und Liebe zum Detail renoviert worden. So schön wie heute war es hier nie und so still auch nicht. Es fehlen der Dreck, der Gestank, kurz: das Leben. 1961, als sich in Dortmund die literarische Vereinigung Gruppe 61 gründete, war der Niedergang des Steinkohlenbergbaus schon in vollem Gange. Heute ist die 1966 geschlossene Zeche II/IV eine von acht Stationen des Westfälischen Industriemuseums, während die Nachlässe der Literatur und Kultur der Arbeitswelt, zu deren bedeutendsten Vertretern die Gruppe 61 gehörte, im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut gesammelt werden. Beide Institutionen luden nun zum Symposion „Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften“ auf das Zechengelände.

Nach der Jahrestagung „Literatur und Arbeit“ der Anna-Seghers- und der Brigitte-Reimann-Gesellschaften Ende 2005 in Potsdam und dem vom Berliner Zentrum für Literaturforschung organisierten Treffen Literarische Kritik der ökonomischen Kultur im Berliner Literaturhaus im Januar 2006 war das schon die dritte Konferenz zu Fragen von Literatur und Arbeit in fünf Monaten. Offenbar treibt die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften das Thema Arbeit stärker an als Schriftsteller und Feuilleton, was vielleicht daran liegt, dass die Existenzen der Wissenschaftler inzwischen noch prekärer sind als die der Autoren und Journalisten.

Professor Erhard Schütz von der Berliner Humboldt-Universität erwähnte dann auch in seinem Eröffnungsvortrag „Literatur – Museum der Arbeit“, den Begriff des Prekariats, der, in Analogie zum Proletariat, die schlecht abgesicherten, hoch flexiblen, meist gut ausgebildeten, aber kaum organisierten Freiberufler zusammenfasst. „Es scheint nicht unkompliziert mit der Arbeit heute: Leute, die vielleicht gern etwas anderes geworden wären, werden Künstler, die dann von etwas anderem als Kunst ihren Lebensunterhalt fristen müssen.“ Die alten Begriffe von Arbeit in der Literatur taugen nicht mehr. „Erst in der Entkoppelung von Arbeit und Bezahlung und Wiederverkoppelung von Arbeit und Muße gewönnen wir jene Position, in der die unumkehrbare Musealisierung industrieller Arbeit frei wäre vom Zwang zur Nostalgie“, sagte Schütz und gab damit der Konferenz eine Richtung, die Nostalgie glücklicherweise gar nicht erst aufkommen ließ.

In vier Kapiteln – Arbeit in der Literatur, Arbeiterkultur nach dem Zweiten Weltkrieg, Arbeit und Identität sowie Autobiografie und Migrantenliteratur – versuchten Referenten verschiedenster Couleur, das Thema zu umkreisen. Die Klammer zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West, bildete das schwierige Verhältnis von geistig und körperlich Arbeitenden. In einem Filmausschnitt des WDR über das zehnjährige Jubiläum der Gruppe 61 formulierten Autoren wie Günter Wallraff den Widerspruch zwischen Solidarität und Individualisierung in der Gruppe 61, die schließlich in die Bewegung „Literatur der Arbeitswelt“ mündete. Das Problem kannten auch die Vertreter des Bitterfelder Weges in der DDR Anfang der Sechzigerjahre. Denn die Grenze zwischen schreibendem Arbeiter und arbeitendem Schriftsteller ließ sich durch Kommuniqués oder guten Willen nicht aufheben.

Wie die Gegenwartsliteratur mit dem Thema Arbeit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsverweigerung umgeht, dem widmeten sich die Beiträge von Julia Bertschik und Enno Stahl. Letzterer konstatierte, dass die ökonomischen Verwerfungen des letzten Jahrzehnts bisher nur in Ausnahmefällen den Weg in die Prosa deutscher Autoren gefunden haben – im Gegensatz zu den jüngsten Entwicklungen der Dramatik. Dabei ist die Transformation des Arbeitsbegriffs durchaus ein literarisches Thema der Zukunft, wenn auch nicht besonders ruhmversprechend und mit klassenkämpferischen Mitteln nicht zu meistern, die bei einigen älteren Teilnehmern der Konferenz noch präsent waren.

Nur das gelegentliche Quietschen eines Krans störte die Stille des verlassenen Arbeitsorts. Neben dem Tagungsort lässt die Stadt ein neues Gebäude für das Fritz-Hüser-Institut errichten. Die Versöhnung von Literatur und Arbeitswelt findet im Museum statt. Die Zumutungen des 21. Jahrhunderts wünscht man sich verstärkt in die Gegenwartsliteratur. ANNETT GRÖSCHNER