Out of Schewenborn

Stell dir vor, es ist Atom-Kontroverse – und keiner geht hin! Und woran liegt das? Die diffuse Hysterie ist längst in die Popkultur eingesickert. Sie dort wieder rauszuholen, wäre die eigentliche Aufgabe

VON MARTIN REICHERT

Die heute 25- bis 35-Jährigen sind die Kinder von Schewenborn, frei nach Gudrun Pausewang. Allerdings haben sie, ganz anders als in der Buchvorlage der Schriftstellerin vorgesehen, überlebt. Anstatt sich wie einer der Protagonisten des Anti-AKW-Schockers „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (1983) in den Abgrund zu stürzen, weil das Leben sowieso keine Perspektiven mehr bietet, haben sie sich aktuell gern gescholtene Überlebenstechniken angeeignet: Anders als ihre eigenen Eltern, die sich während ihrer Jugend über Sinnfragen stritten und sich somit abnabelten, flüchtete sich diese Generation in eine Art Beobachterposition: Das ganze Leben ist ein Film, mit dem man eigentlich nichts zu tun hat – der Psychologe Stephan Grünewald macht diese Haltung in seinem Buch „Deutschland auf der Couch“ (Campus) nun sogar für die Misere des ganzen Landes verantwortlich: Die Älteren hätten sich diese angeblich phlegmatische Haltung bei den Jungen einfach abgeschaut.

An allem schuld

Die Ausbeutung der Enkel – weil sie sowieso an allem schuld sind, sollen sie gefälligst die Rente finanzieren und ordentlich Kinder in die Welt setzen, also genau das tun, was man sich in den 1980er-Jahren mit der Begründung „In eine solche Welt setzte ich keine Kinder“ verkniffen hat. Die in dieser Zeit sozialisierte Jugend jedoch wurde mit einem regelrechten Sperrfeuer belegt: Waldsterben, Atom-GAU, Aids – Gudrun Pausewang als Gute-Nacht-Geschichte, danach hat man garantiert keine süßen Träume.

Alles überlebt. Dem deutschen Wald geht es so weit ganz gut, HIV kann mit Hilfe von Medikamenten therapiert werden und Tschernobyl war laut WHO und der Atomkontrollbehörde gar nicht so schlimm: 50 Tote, einige tausend zumeist heilbar krebserkrankte Kinder. Auch die Pausewang ist überwunden: Ihr Tschernobyl-Werk „Die Wolke“ (1987) ist nun im Kino zu bewundern. Alles nur ein Film. So wie „Am Tag, als Bobby Ewing starb“ – Schmunzeln über die Ängste von vorgestern. Das Leben als Comic-Sitcom wie „Die Simpsons“, in der ein Herr namens Mr. Burns ein desolates Atomkraftwerk betreibt, für dessen Sicherheitsüberwachung ausgerechnet der unterbelichtete Homer Simpson zuständig ist. Haben „wir“ gelacht.

Nun ist sie wieder da, die Atomdebatte. In Deutschland haben Lobbyisten das Ende von Rot-Grün langmütig abgewartet, um unmittelbar danach den Wiedereinstieg zu thematisieren, der gestrige Energiegipfel bei Kanzlerin Merkel hat den Streit über die Zukunft der Atomenergie erst recht neu entfacht: „Wir brauchen eine breite Debatte, ob ein Ausstieg aus der Atomkraft zu verantworten ist“. fragte etwa Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff in der BamS und lieferte die Antwort gleich mit: „Er ist es nicht.“ CSU-Generalsekretär Markus Söder bekannte gegenüber der BZ: „Wir sind sicher keine Kernkraftfetischisten, aber die bisherigen Konzepte zum Ersatz reichen nicht.“

Angst vor der Bombe

Gleichzeitig dräut eine neue, diffusere „Atom-Angst“: Will der Iran die Atombombe bauen oder bloß über nicht nachhaltig produzierten Strom verfügen, um auf den grünen Zweig zu kommen? Ist die nächste Bombe, die in einer europäischen Hauptstadt explodiert „dirty“, also nuklear kontaminiert? Soll Indien Uran bekommen und von wem?

Die überlebenden Kinder von Schewenborn setzen nun längst eigene Kinder in die Welt, die mit eigenen Ängsten aufwachsen werden. Erwachsen werden bedeutet jedoch auch, sich nicht nur von den Wertesystemen der Eltern abzusetzen, sondern auch diejenigen Haltungen zu überprüfen, die aus der Opposition gegen diese Eltern entstanden sind. Die Generation der 25- bis 35-Jährigen sollte sich an der Diskussion um einen Wiedereinstieg in die Atomkraft aktiv beteiligen – und zwar so, wie sie es gelernt hat: mit kühlem Blick und frei von semi-esoterisch angehauchten, naturreligiösen Ideologien und Panikmache.

Es geht schließlich um eine tatsächliche Richtungsentscheidung, die wiederum für den eigenen Nachwuchs von Belang ist: Hat man den Mut, andere, bessere, alternative Wege zu beschreiten, vielleicht sogar zum Vorbild zu werden für Länder, denen es bislang nach atomarer Energie dürstet – etwa der energiehungrigen Volksrepublik China, die sich von Australien rund 20.000 Tonnen Uranerz wird liefern lassen. Genug Stoff für 50 neue Atomkraftwerke.

Statt nun die Bücher der Pausewang aus dem Keller zu holen, um den eigenen Nachwuchs zu traumatisieren, sollten sich die jungen Eltern, die sich so lange geweigert haben, erwachsen zu werden, selbst handeln. Mal so richtige Energiewirtschaftsfilme fahren, sozusagen.