Kinderreime

Ficken oder gefickt werden: Ghostface Killahs neues Album „Fishscale“ ist ein Meisterwerk des Cocaine Rap, eine Allegorie auf das Leben in der Bandenökonomie

Wofür Schulbildung nicht alles gut sein kann: „All around the world today, a kilo is the measure / a kilo is a thousand in gramm, easy to remember“, plärrt der Refrain einer alten Kinderschallplatte aus den Siebzigern aus einem Radio, während zwei Männer mit einem Löffel in einem Topf herumrühren und ab und zu die Nase hochziehen. Wir befinden uns in einer Crackküche, und das Kinderlied springt aus dem Radio hinein in das Stück „Kilo“, in dem der New Yorker Rapper Ghostface Killah zusammen mit seinem Partner Raekwon über das Crackkochen philosophiert: „When you got the fond, you got the candys, man“. Wieder und wieder singen die beiden das Kinderlied mit: als wollten sie sich beruhigen. Sie stehen unter Stress, andere Dealer könnten sie überfallen oder die Polizei das Gebäude stürmen – doch abgesehen davon: bestimmte Wahrheiten kann man nicht oft genug sagen. Und abgerechnet wird am Ende ja tatsächlich in Kilos.

„Crack Nostalgia Rap“ nennt man Platten wie „Fishscale“ (Def Jam/Universal), das neue Album von Ghostface Killah, in den USA auch und bezieht sich damit auf den Hiphop der späten Achtziger. Mit blutigen Geschichten aus den Schützengräben des War On Drugs hatten Rapper wie Ice-T und Gruppen wie NWA oder die Geto Boyz damals eine Inner-City-Erzählung eingeführt, die bis heute nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt hat. „You either play or you’re being played“ könnte man das Grundgesetz ihrer Ethik zusammenfassen: Du fickst oder du wirst gefickt. Und Ghostface Killah ist nicht der Einzige, der Platte auf Platte nach diesem Schema aufbaut – auch Nachwuchskräfte wie die Neptunes-Protegees The Clipse haben ihre Karriere auf dem Cocaine Rap aufgebaut.

Das sind genauso oft komische wie traurige Geschichten, die der realen Getto-Erfahrungswelt so viel verdanken wie dem Universum aus Actionfilmen, Comics und religiösen Traktaten, in dem Rapper wie Ghostface Killah aufgewachsen sind. Tatsächlich liegt die Anziehungskraft dieser Erzählung nicht nur in den Nostalgiemomenten: wenn hier wieder und wieder über die Regeln des „Game“ philosophiert wird, wird ja nicht nur das richtige Verhalten in der Netzwerkökonomie des Drogenhandels verhandelt. Rapper wie Ghostface Killah sind Künstler, die große Allegorien für das Leben in jeder Form von Bandenökonomie zeichnen. Tausend Gramm mögen zwar überall auf der Welt ein Kilo sein. Was man mit dieser Erkenntnis anstellt, hat aber viel mit der Straßenseite zu tun, auf der die Schule steht, in der man sie gelernt hat.

TOBIAS RAPP