Identität gibt es nicht

Sieht so das Kind des Jahrhunderts aus? Radu Milhaileanus neuer Film „Geh und lebe“ erzähltvon den Absurditäten, die es mit sich bringt, wenn man als äthiopischer Junge in Israel aufwächst

VON BIRGIT GLOMBITZA

Spätestens seit seiner Deportationsfarce „Zug des Lebens“ gilt der Rumäne Radu Milhaileanu als trittsicherer Erzähler, der auch die sensibelsten Abschnitte unserer Geschichte ohne Schaden ins Tragikomische zu wenden weiß. Zumindest in den Möglichkeiten des Märchens. Seine Helden sind noch mal Davongekommene dank Tarnkappe und Zauberstab. Wie Schlomo, der Dorfdepp, der in „Zug des Lebens“ der Schtetl-Gemeinschaft den kühnen Vorschlag macht, sich selbst zu deportieren. In einem selbst gebastelten Zug nach Palästina, eskortiert von Juden in Nazikostümen.

Auch „Geh und lebe“ beginnt als eine klug ausgelotete Allegorie über die Suche nach der Heimat, die lebensgefährliche Mimikry des ewigen Flüchtlings und die schwer auszumachende Diaspora der einen wahren Identität. Und auch hier gibt es einen Schlomo, der vom Unsichtbarwerden mitten in Verfolgung und Zerstörung träumt. Doch diesmal muss er im richtigen Leben zurechtkommen. Und das wird noch ein Problem, vor allem ein ästhetisches.

„Geh und lebe“ erzählt von den „Falashas“, den „Landlosen“, wie die äthiopischen Juden in ihrer Heimat genannt werden. Er begleitet ihren Exodus ins Gelobte Land mit Umweg über ein Flüchtlingscamp im Sudan. Von dort aus wurden sie 1984 in der „Operation Moses“ nach Israel ausgeflogen. Heute leben etwa 90.000 äthiopische Juden dort. Beaufsichtigt von einer skeptischen Öffentlichkeit, die das Judentum der schwarzen Migranten kategorisch anzweifelt. Bei Verhören und Leibesvisitationen sucht man immer wieder nach Simulanten. Enttarnte Muslime und Christen werden zurückgeschickt.

Milhaileanus neunjähriger Schlomo ist einer von den „Falschen“. Mit nur einem Blick haben sich seine Mutter und die eines eben verstorbenen Kindes im Lager verständigt, dass Schlomo anstelle des Toten ausreisen soll, um dem sicheren Hungertod zu entkommen. „Geh, lebe, werde, und komm nicht zurück“, ist das Letzte, was der Kleine von seiner Mutter zu hören bekommt. Er wird sich tapfer schlagen. Und wie er die Absurditäten meistert, die ihm seine äthiopisch-israelisch-christlich-jüdische Identität einbringt, das beschert dem Film seine anrührendsten Momenten. Wie er lernt, seine erfundene Ahnenreihe zu beherrschen, sich an Duschen und Tennissocken zu gewöhnen oder wie er in einem religionsphilosophischen Wettstreit den ambitioniertesten jüdischen Nachwuchs hinter sich lässt.

„Dieses Kind, das da heranwächst, ist in meinen Augen das Kind des Jahrhunderts“, hat Milhaileanu über seinen Film gesagt. „Es schließt einen Kompromiss mit dem Irrsinn der Geschichte. Während des Zweiten Weltkrieges hätte ihm die gleiche Lüge, die ihm 1984 das Leben rettete, ohne Zweifel den Tod gebracht.“ Radu Milhaileanu stammt aus einer Familie auf der Flucht, erst vor den Nazis, dann vor Stalin. 1980 muss er selbst Rumänien verlassen, um Ceaușescus Terrorregime zu entkommen, und geht nach Frankreich. Die „positive Verstellung“, die Überlebensstrategie seiner Protagonisten, ist das Thema seiner eigenen Biografie.

Dabei interessiert ihn keine politische oder religiöse Überzeugung. In „Geh und lebe“ entscheidet er sich von Anfang an für die Mutterliebe als alles überstrahlende Kraft und verfolgt diese Ur-Macht mit einem zunehmenden bildlichen Mystizismus. Schlomos allabendlicher Blick zum Mond ersetzt die Nabelschnur. Immer wieder gibt es die Frauen, die dem Flüchtlingskind ihre Mutterschaft anbieten. Sie tauchen an den neuralgischen Punkten seines Schicksal auf, weisen den Weg zum Überleben. Bei so viel schon naturbedingter Sorge und Innigkeit braucht es keine roten Schuhe mehr, um dem Übel zu entkommen. Am Ende, da ist „das Kind des Jahrhunderts“ nicht nur ein begnadeter Jude, sondern auch ein engagierter Mediziner, der mit den „Ärzten ohne Grenzen“ nach Afrika zurückkehrt. In das Flüchtlingscamp im Sudan, das jetzt zu einem Andachtsbild aus Staub, Leiden und seltsamer Erhabenheit gerinnt. Da hockt auch die Mutter wieder, schwach, runzelig, kaum wiederzuerkennen. Bis sie zum Himmel schreit, unerträglich scharf und laut. Geburt, Tod, Hass, Liebe, Untergang und Zukunft – alles muss in dieses eine Bild hineinpassen. Milhaileanu hat es nicht kleiner und lässt sich zu einer seltsamen Feierlichkeit hinreißen. Hier wird aus dem glühenden Humanisten mit dem feinen, hintergründigen Humor für ein paar irritierende Minuten ein Sergio Leone, ein Epiker des Terrors und des Elends.

„Geh und lebe“. Von: Radu Milhaileanu. Mit Yaël Abecassis, Roschdy Zem, Moshe Agazai. Frankreich 2004, 144 Min.