Wolfgang Amadeus, das Krokodil

Distanzformen sind das Markenzeichen des diesjährigen Mozart-Jubiläums: Die Wiener Ausstellung „Experiment Aufklärung“ zeigt das Leben des Musikers als Inszenierung in den Parallelwelten des 18. Jahrhunderts – inklusive familiärer Psychodramen

Mal gut, mal böse, stets galant:Gerade die doppelbödige Ironieder Mozart-Zeit kam dem bürger- lichen 19. Jahrhundert abhanden

von JAN-HENDRIK WULF

Wie eine riesige Qualle schwebt eine Montgolfiere aus transparenter Kunststofffolie im Eingangsbereich der Wiener Albertina über den Köpfen der Besucher: eine pneumatische Skulptur des Künstlers Klaus Pinter, die als aufklärerisches Emblem von wissenschaftlichem Fortschritt und geistigem Perspektivwechsel den Blick in die Höhe zieht. Umkreist wird das Gebilde von einem Schwarm vergoldeter Stühle, deren Design einmal als das verspielte Rokoko einer Plastik-Baumarkt-Garnitur von Allibert, einmal als der strenge Klassizismus eines typischen Ikea-Sitzmöbels erkennbar ist.

„Experiment Aufklärung“ – so lautet der Titel der Ausstellung, die das Wiener Da-Ponte-Institut zum 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart in den Räumen der Albertina ausgerichtet hat. Die luftige Skulptur umreißt dabei schon die beiden ästhetischen und intellektuellen Pole, um die es in dieser Mozart-Schau gehen soll: „Goût Moderne//Rokoko, Goût Grec//Klassizismus, Experiment Aufklärung, Eclaircissement, Vernunft: Ordnung“, verkünden hier noch etwas rätselhaft die an den Wänden aufgetragenen programmatischen Schriftbänder.

Mit einer beeindruckenden Materialfülle von 1107 zeitgenössischen und modernen Exponaten zielt diese Ausstellung gegen den Mozart-Topos von einsamer Tragik und unverstandener Größe – und schiebt ihn einfach beiseite. Stattdessen zeigt sie Mozarts künstlerische Existenz als ein Leben und Arbeiten in den Parallelwelten des 18. Jahrhunderts, einer doppelbödigen Kultur der ästhetischen und politischen Gegensätze. Einer Zeit, die ebenso für aufgeklärten Absolutismus steht wie für naturwissenschaftlich-geistigen Aufbruch, für die Faszination am Glücksspiel, an mechanischen Wunderapparaturen wie an kitschig verspielten Fayencen. Einer Zeit also, die schon deshalb neues Interesse an der Person Mozarts rechtfertigt, weil sie in ihren Widersprüchen ebenso wenig auf den Punkt zu bringen ist wie die Gegenwart.

Ohne Zögern betritt man daher die schweinsrosafarbene, mit gelben Quitten, grauen Muscheln und grünen Pflanzenmustern verzierte Auslegeware, die den klassizistisch-kalten Marmorfußboden der Albertina verdeckt und einen auf den gesamten 2.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche begleiten wird. Gestaltet wurde der Teppich von dem Wiener Künstler Franz West. Ganz klar: Das schreibunte Kitschmuster in historisierender Farbgebung soll hier selbst zu einem erkenntnisleitenden Prinzip erhoben werden. Für den Kurator der Ausstellung, den Leiter des Wiener Da-Ponte-Instituts, Herbert Lachmayer, ist das flauschige Rokoko nämlich „keine dumme Verspieltheit, sondern eine Distanzform, um Lösungen für das knallharte Leben zu finden“.

Distanzformen sind geradezu das Markenzeichen des diesjährigen Mozart-Jubiläums. Wer vor dem Besuch der Albertina schon einen Abstecher zum frisch renovierten Mozart-Haus in der Domgasse gemacht hat und dort, ganz im Sinne des konservierenden Denkmalsschutzes, durch eine asketisch leer geräumte Mozart-Wohnung gelaufen ist, hat sich mental schon bestens darauf vorbereitet. Denn die Aktualität Mozarts kann im Jahr 2006 nur eins bedeuten: dass man auf den Spuren des Komponisten keinesfalls der eskapistischen Gegenwelt einer bürgerlich inszenierten Hochkultur verfallen darf, sondern vor allem sich selbst begegnen soll. Das Gedenkmaterial wird verknappt, oder es quillt eben im bunten Überfluss.

Konsequenten Verzicht leistet die Mozart-Schau in der Albertina daher auf eine ablenkende Kakophonie wild durcheinander dudelnder Soundtracks: Abgesehen von den Toiletten, wo leise Mozarts Klaviersonaten erklingen, bleibt es in den Ausstellungsräumen angenehm ruhig. Musik gibt es nur auf Knopfdruck vom Audioguide.

Fast im Überfluss bietet die Ausstellung dagegen den Weg der Annäherung durch das Material authentischer Zeitdokumente. Gezeigt werden originale Mozart-Handschriften, darunter Teile des Briefwechsels mit dem Vater Leopold und die Autographen vieler wichtiger Werke, wie der Pariser Symphonie, der Oper „Così fan tutte“ oder des unvollendeten Requiems. Zu sehen sind auch ein Hammerklavier aus Prag, auf dem, wie eine darauf angebrachte Plakette verrät, der leibhaftige Mozart im Januar 1787 einmal Arien aus dem Don Giovanni gespielt haben soll, sowie einige Originale der wenigen, zu Lebzeiten des Komponisten entstanden Mozart-Porträts.

Doch eher beiläufig gehen diese Reliquien in die Materialfülle der Ausstellung ein. Ob man sich mit ein paar bräunlichen Tintenstrichen auf Notenpapier schon von der wärmenden Aura des Authentischen umfangen fühlt, muss jeder Besucher mit sich selbst abmachen. Mozart, so die These der Ausstellungsmacher, hatte viele Gesichter. Er offenbarte nicht sein Inneres, sondern er inszenierte sich. Stolzerfüllt berichtete schon 1770 Vater Leopold in einem Brief aus Italien, welchen ungemeinen Eindruck der Auftritt der Wunderkind-Familie auf den Straßen Roms machte: „Sie halten den Wolfgang für einen deutschen Kavalier … und ich ward als sein Hofmeister angesehen.“

Die Karrierestrategie des Vaters, für den Sohn auf diesem Weg ein sicheres Hofamt außerhalb Salzburgs zu ergattern, ging allerdings nicht auf. Man braucht nicht einmal selbst ein Wunderkind gewesen zu sein, um die daraus resultierenden familiären Psychodramen zu begreifen. Ausführlich sind sie im Briefwechsel zwischen Mozart und seinem Vater Leopold nachzuvollziehen. Noch 1778 tingelte Mozart in seinem erfolglosen Bemühen, dem provinziellen Musikerdasein beim Salzburger Erzbischof Colloredo zu entkommen, nach Paris. Als dort seine Mutter starb, hat er das dem Vater gegenüber zunächst verschwiegen – um postwendend aus Salzburg mit bitteren Schuldvorwürfen eingedeckt zu werden: „Ja ich hoffe, dass Du, nachdem Deine Mutter mal à propos in Paris hat sterben müssen, Du Dir nicht auch noch die Beförderung des Todes Deines Vaters übers Gewissen ziehen willst.“

Untergründig ist zu verstehen: Allzeit gern warf sich Leopold Mozart diesem postadoleszenten Krokodil von Sohn zum Fraße vor, solange der nur bereit war, den ambitionierten Ratschlägen des Vaters Folge zu leisten. Nichts Außergewöhnliches liegt für den heutigen Besucher auch in den Repliken des Sohnes: „Wenn Sie aber die Ursache meiner Nachlässigkeit, Sorglosigkeit und Faulheit zuschreiben, so kann ich nichts, als mich für Ihre gute Meinung zu bedanken und von Herzen bedauern, dass Sie mich, Ihren Sohn, nicht kennen“, giftete er zurück in Richtung Salzburg. Im aufreibenden Umgang mit Adel und Elternhaus fand Mozart 1781 seine eigene Strategie: den endgültigen Rauswurf bei Colloredo zu provozieren und sich als freischaffender Künstler in Wien niederzulassen.

Die Ausstellung zeichnet einen Mozart, der als Person vor allem in Wechselwirkung mit den kulturellen Kontexten seiner Zeit begreifbar wird. Kantige Vitrinen mit geschwungenen Rokokobeinchen, gestaltet von der Gruppe n.o.m.a.d., gruppieren sich im Basteiraum der Albertina zu einem chronologisch geordneten Innenkreis um Mozarts Leben und Werk sowie zu einem größeren Außenkreis, der den Kunst- und Denkströmungen der Zeit gewidmet ist. Hier entdeckt man etwa die zwölf Oktavbände der „Nouvelle Justine“ des Marquis de Sade: Aufgeschlagen sind Abbildungen von Körperpyramiden und Kopulationsformen, die den heutigen Betrachter entfernt an Bilder aus Abu Ghraib erinnern.

Kurz zuvor hat man erst jene Vitrinen passiert, die in zeitgenössischen Exponaten den publizistischen Kampf um die Abschaffung der Folter dokumentieren. Man versteht: Das „Experiment Aufklärung“ thematisiert den Balanceakt zwischen Entgrenzung und vernunftgeleiteter Selbstbeherrschung: So lebte es sich in einer Zeit, die nicht nur normative Moralvorstellungen hervorbrachte, sondern zugleich auch ihr Wissen um die Breite des menschlichen Handlungsrepertoires und dessen Abgründe zu erweitern strebte.

Mit diesem Zeitverständnis nähert sich die Ausstellung dann wieder Mozarts Werk. Schließlich erklärt sich die psychologische Brisanz seiner Opern bis heute durch ihre ambivalent gestalteten Charaktere, die ihre innere Widersprüchlichkeit gleichermaßen auf der Ebene des Textes wie in der Musik entfalten. Das verdankt sich nicht zuletzt Mozarts Zusammenarbeit mit dem kongenialen Librettisten Lorenzo Da Ponte, dem im Jüdischen Museum Wien gerade eine eigene Ausstellung gewidmet ist. Gegen Absolutismus jedweder Couleur steht hier das Denken und Existieren auf zwei Ebenen.

Seit 1784 war Mozart Mitglied einer Freimaurerloge. Im Zentrum des separaten Ausstellungsbereiches zu diesem Thema, der unter Mitwirkung des Ägyptologen Jan Assmann entstanden ist, steht die Deutung der „Zauberflöte“ als einer Oper zwischen Mysterienspiel und Zaubermärchen, in der die Ideen- und Bilderwelt der doppelten Kultur des aufgeklärten 18. Jahrhunderts dargestellt ist: Für die in den aufklärerischen Geheimgesellschaften längst durchschaute Fassadenhaftigkeit der absolutistischen Ordnung habe hier ein imaginäres altes Ägypten mit einer polytheistischen Volksreligion und einem Monotheismus für die Eingeweihten Pate gestanden.

Der Einweihung in die Mysterien des Männerbundes gingen dabei die von den Zuschauern der Oper mitvollzogenen Stadien der Illusionierung und der Desillusionierung voraus: Die Charaktere der „Zauberflöte“ erscheinen bald gut und bald böse, was die Zuschauer dazu bewegen solle, einen selbstaufklärerischen Perspektivwechsel vorzunehmen.

Gerade diese Form der ironisch-doppelbödigen Identitäts- und Lebensentwürfe der Mozart-Zeit kam dem bürgerlich-patriarchalen 19. Jahrhundert abhanden. Zu dieser Kulturtechnik aber möchte die Ausstellung ihre Besucher ermuntern: eine in Parallelwelten dezentrierte Individualität wieder auf intelligente und galante Weise inszenieren zu lernen.

„Mozart. Experiment Aufklärung“, bis zum 20. 9.; „Lorenzo Da Ponte. Aufbruch in die neue Welt“, bis 17. 9.; Mozarthaus Vienna