In den Krokodilsschlund der KPD

Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt erzielten die Sozialdemokraten am Sonntag vor knapp zwei Wochen dürftige 21,4 Prozent, in Thüringen waren es zuletzt knappe 14,5 Prozent, in Sachsen landete die Partei mit 9,8 Prozent gar im Bereich der Kleinparteien. Volkspartei jedenfalls ist die SPD im Dreieck zwischen Magdeburg, Dresden und Eisenach nicht mehr. Dabei bildete gerade diese Region einst, vor 1933, über Jahrzehnte die Hochburg der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Deutschland schlechthin. Doch mit der Herrschaft der SED brach diese Tradition ganz und gar ab. Sechzig Jahre liegt es nun zurück, dass es zur SED im Osten Deutschlands kam. Dieses Ereignis, die viel zitierte Zwangsvereinigung, wurde für die Sozialdemokraten in den klassischen Zentren ihres mitteldeutschen Milieus zur Tragödie.

Denn schließlich war ebendieses Milieu gerade in jener Gegend nicht allein sozialdemokratisch; es war eine Einheitskultur des Sozialismus, das Anhänger der KPD ebenso umschloss wie Parteigänger der SPD. Es verknüpfte Sozialdemokraten und Kommunisten im Alltag; es überbrückte so die Differenzen zwischen den beiden Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Gewiss: Die Anführer und Parlamentarier von KPD und SPD hatten sich im Dresdner oder Weimarer Landtag vor allem nach 1923 allerhand Gehässigkeiten an den Kopf geworfen, hatten einander verächtlich als „Lumpen“ und „Verräter“ beschimpft. Doch: Im Alltag vor Ort turnten die einfachen sächsischen Kommunisten und Sozialdemokraten im gleichen Arbeitersportverein, sangen im selben Arbeiterchor einträchtig ihre klassenkämpferischen Lieder. Sie skandierten ähnliche Parolen, redeten sich untereinander als „Genosse“ an; und sie feierten in ihren gemeinsamen Arbeiterfreizeitvereinen identische Feste. Kurzum: Im Milieu- und Vereinsalltag gehörten Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen. Hier produzierten sich Erfahrungen und Perspektiven einer einheitlichen sozialistischen Lebenswelt und Zukunftsgesellschaft, die die Anhänger von KPD und SPD stärker zusammenfügten als trennten. Und so sprachen auch Sozialdemokraten in dieser Region entzückt von der „proletarischen Mehrheit“, wenn SPD und KPD bei Wahlen die „bürgerlichen“ Parteien an Stimmen und Mandaten übertrafen.

Im Übrigen hatte auch der Nationalsozialismus Kommunisten und Sozialdemokraten noch ein Stück näher zusammengeführt. Vor allem die früheren Funktionärseliten der beiden Parteien erlebten die Zeit zwischen 1933 und 1945 als puren sozialen Abstieg und politisch oft genug als terroristische Ausgrenzung. Ihnen brachte auch die nationalsozialistische Wirtschaftskonjunktur, der Rüstungsboom nach 1936, rein gar nichts. Im Frühjahr 1933 hatten sie ihre durchaus nicht unkomfortablen hauptamtlichen Posten in den Arbeiterorganisationen als Redakteure, Partei- und Verbandssekretäre, Stadträte, Gewerkschafter, Genossenschaftler und AOK- oder Rote-Hilfe-Bedienstete von einem Tag zum anderen verloren. In den Jahren darauf schlugen sich die meisten von ihnen als Hausierer und Reisende mehr schlecht als recht durch, waren oft inhaftiert und verfolgt, gesellschaftlich an den Rand gedrängt, ihres Lebens nie ganz sicher. Dadurch rückten auch die früheren sozialdemokratischen Multiplikatoren in ihren ehemaligen Hochburgen wieder weit nach links, gingen affektiv verstärkt auf Distanz zur „bürgerlichen Gesellschaft“. Den Kommunisten waren sie in diesem Erfahrungsprozess mental näher gekommen. Sozialdemokratische Funktionäre und kommunistische Kader trafen sich zwar nicht in einem gemeinsamen Widerstand, teilten aber doch eine affine Ausgrenzungs- und Leidensgemeinschaft. Auch das verband sie; auch das machte die Sozialdemokraten aufgeschlossener für das Versprechen der „Einheit der Arbeiterklasse“.

An alledem konnten die Propheten der Einheitspartei in der SBZ 1945/46 probat anknüpfen. Und auch wenn sie heute ungern daran erinnert werden: Zu diesen Propheten gehörten ebenfalls die Sozialdemokraten. Mehr noch: Sie propagierten im industriellen Mitteldeutschland am lautesten und frühesten die „Einheit der Arbeiterklasse“. Sie gingen mit weit größerem Eifer an die Sache der Einheit als zunächst die noch zaudernden Kommunisten. Doch natürlich: In ihrem Einheitsimpetus hatten die Sozialdemokraten zwischen Rostock und Zwickau nicht die Tristesse und Uniformität der späteren Honeckerpartei vor Augen. Im Grunde war der Blick rückwärts gewandt, ein wenig sentimental. Die neue sozialistische Einheitspartei, die den Sozialdemokraten 1945 vorschwebte, sollte gewissermaßen die alte, offene und breite Partei von Eduard Bernstein über Karl Kautsky bis Rosa Luxemburg der Wilhelminischen Ära sein, als man unter der Führung des legendären Arbeiterführers August Bebel an Wählern und Mitgliedern unaufhörlich zunahm, gleichsam siegesgewiss dem Endziel zustrebte. Man dachte jedenfalls nicht an die monolithische Despotie des Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck, wenngleich beide in jungen Jahren ebendieser Bebel-SPD beigetreten waren und ihre politische Sozialisationszeit dort – im Übrigen: gewiss nicht ganz zufällig – zugebracht hatten.

Während des letzten Quartals 1945 schwand allerdings bei vielen Sozialdemokraten die anfängliche Euphorie für das politische Einheitsprojekt. Das seit den Januartagen 1919 kontinuierlich angehäufte Misstrauen der Sozialdemokraten gegen die Kommunisten und ihre oft perfiden Agitproptricks kehrte mit Aplomb zurück. Bei den russischen Besatzungsoffizieren stießen sie immer wieder auf Verbote, Zensurmaßnahmen, Drohungen. Inhaftierungen häuften sich. Erneut mussten Sozialdemokraten tagtäglich damit rechnen, in Lager und Gefängniskeller gesteckt zu werden. Einige bezahlten ihre Insistenz auf sozialdemokratische Unabhängigkeit mit dem Tod; mehrere flohen in den Westen.

Der Einheitsschwung des Frühjahrs 1945 ebbte bei zahlreichen Sozialdemokraten ab. Doch jetzt, im Herbst 1945, forcierte die kommunistische Parteileitung das Tempo; nun steuerte sie mit aller Emphase die Einheitspartei an. Die „Gruppe Ulbricht“ hatte die Partei mittlerweile hinreichend konsolidiert, hatte ihre taktische und strategische Marschrichtung von oben nach unten straff durchgedrückt. Fatal im nun folgenden Prozess war, dass die inzwischen einheitsskeptischen Arbeiter an der Basis der SPD nicht mit dem Kreis mittlerweile fusionsunwilliger Sozialdemokraten an der Spitze ihrer Partei zusammenkamen. Die Einheitsgegner unten fanden unter den einschüchternden, repressiven Bedingungen der SBZ jener Monate kein Sprachrohr bei den Einheitsfeinden oben, die den latenten Unmut in Versammlungen oder auf Kundgebungen hätten vokalisieren oder gar organisieren können. Schlimmer noch: Die meisten Landesvorsitzenden blieben bis zum Schluss gar unbeirrte Befürworter einer Allianz mit den Kommunisten. Und sie hatten durchaus auch weiterhin keineswegs ganz wenige Anhänger in der Partei. Vorneweg marschierten die beiden Landesvorsitzenden von Thüringen und Sachsen, Heinrich Hoffmann und Otto Buchwitz, die miteinander wetteiferten, als Demiurgen der „Einheit der Arbeiterklasse“ in die Geschichtsbücher des Sozialismus einzugehen. Sie waren es dann auch, welche die anfangs noch zögernden und zaudernden Berliner Zentralinstanzen der SPD gezielt in den Krokodilsschlund der KPD trieben.

Doch: Warum haben sich die meisten sozialdemokratischen Mitglieder trotz allen Abstands und einiger Widersetzlichkeiten der Vereinigung mit den Kommunisten letztlich nicht verweigert? Mehrere Motive mögen zusammengekommen sein. Loyalität und Gefolgschaft hatten in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung einen hohen emotionalen Wert. Eine soziale Bewegung, die häufig vom Staat und von den Mächtigen kriminalisiert und stigmatisiert worden war, hatte eben fest zusammenzustehen und diszipliniert zu agieren. Das war granitener sozialdemokratischer Ethos. Und da die Parteiführungen auf Zonen- und Länderebene der SBZ seit Februar 1946 offiziell für eine zügige Vereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten plädierten, stellten die Mitglieder und Parteitagsdelegierten, als es zur Abstimmung kam, ihre Einwände und Unbehaglichkeiten zurück. Die kollektive Parteiräson wog schwerer als der individuelle Zweifel.

Zudem: Unmittelbar zu Beginn der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ schienen die Sozialdemokraten in dieser Partei durchaus ihren Ort zu finden, ihr überliefertes Selbstverständnis mindestens partiell behalten zu können. Vom Ortsverein aufwärts waren alle Vorstandsposten in den ersten Monaten der SED noch paritätisch zwischen den beiden Parteien aufgeteilt. Auch entsprach die anfängliche Organisationsstruktur keineswegs dem Modell einer leninistischen Kaderpartei, sondern enthielt eine Reihe konventionell sozialdemokratischer Elemente. Das erste Parteiprogramm der SED lehnte sich überdies eng an Begründung und Konzeption der österreichischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit an, die als Vorbilder gerade in der SPD Sachsens und Thüringens hoch im Kurs standen. Im Übrigen gab es den ganz trivialen Opportunismus, da im radikalen sozialen Transformationsprozess der SBZ aus Facharbeitern mit gewerkschaftlich-sozialistischem Hintergrund binnen weniger Monate neue administrative und betriebliche Eliten wurden, was auch für sozialdemokratische Familien eine ganz neue, abrupte und durchaus schmeichelhafte Karriereerfahrung bedeutete.

Milieu, Weltanschauung und sozialer Aufstieg jedenfalls schlugen eine Brücke, die eben auch von der SPD zur SED führte und die infolgedessen von vielen früheren Sozialdemokraten bestiegen und überquert wurde, um sich in der neuen Einheitspartei zu akkomodieren. Die klassenkämpferische Sprache, die Massenkundgebungen, die roten Fahnen, die revolutionären Lieder aus dem Organisationsleben der sozialistischen Kultur-, Freizeit- und Sportorganisationen vor 1933 nahmen viele Sozialdemokraten als ein Stück Kontinuität von ihrer alten Welt hinein in die neue realsozialistische Gesellschaft. Ein eigensinniges, resistentes sozialdemokratisches Milieu ließ sich im Osten Deutschlands in den SED-Jahren dagegen nicht historisch aufbewahren, gar über die vier Jahrzehnte der Diktatur hinweg tradieren. Schließlich taugten die überlieferten sozialdemokratischen Mentalitäten – anders als in den braunen Jahren 1933 bis 1945 – schlecht als nichtkonformistisches Verhaltens- und Kulturmuster im SED-Staat. Denn die herkömmlichen sozialdemokratischen Metaphern, Ausdrucksformen und Manifestationen gehörten ja überwiegend ebenfalls zur Rhetorik, zum Selbstbild und zur Präsentation der SED, vom roten Maifest bis zum Genossenkult. Der kulturelle Habitus der alten Sozialdemokratie war den Äußerungsformen der SED zu ähnlich, deshalb konnte er als Bezugspunkt subkutaner Dissidenz unter den Bedingungen eines rot drapierten Regimes nicht fortexistieren.

Allerdings: Eine stattliche Anzahl der früheren Sozialdemokraten lebte sowieso keineswegs in Obstruktion zum SED-Sozialismus. Zwar pflegen Sozialdemokraten gern diesen Geschichtsmythos. Und natürlich ist richtig, dass es vor allem in den Jahren 1949 bis 1951, als die Kämpfe gegen den „Sozialdemokratismus“ in der SED tobten, tausende von Opfern aus der alten Partei von Bebel und Wels gab, dass viele über Jahre in Haft verbrachten, deportiert wurden, den Tod fanden. Doch nicht ganz wenige ehemalige Sozialdemokraten arrangierten sich auch mit den Verhältnissen, nutzten die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten, die sich den Angehörigen der Arbeiterfamilien in der SBZ und in den frühen Fünfzigerjahren der DDR in historisch bis dahin einzigartiger Weise boten. Der Ausstieg aus dem Facharbeiterproletariat und der Einstieg in Leitungsfunktionen von Staat, Partei, Gewerkschaft, Bildungssektor, Justiz und Militär integrierte viele frühere Sozialdemokraten und ihre Kinder in die Gesellschaft der DDR, band sie an Partei und Staat.

Und daher profitierten die neuen sozialdemokratischen Parteiorganisationen, die sich 1989/90 wieder im früheren mitteldeutschen Raum bildeten, nicht von den historischen Traditionen der klassischen SPD. Der ganz überwiegende Teil der früheren Sozialdemokraten – soweit sie in SBZ und DDR verblieben waren – hatte der SED angehört; und das galt auch für die Kinder, Enkel und Urenkel. Verfolgt man zwischen Schwerin und Chemnitz den Familienzyklus von früheren sozialdemokratischen Funktionären über das Jahrhundert hinweg, stößt man weithin auf Generationenfolgen, die von der SPD über die SED bis zur PDS reichten. Nur in ganz wenigen Fällen verliefen die Familienbiografien zur Pfarrers-Ingenieurs-SPD im Osten von heute. Dabei tendierten durchaus viele der Enkel und Urenkel aus früheren sozialdemokratischen Familien nach der Implosion der DDR zu einer Rückkehr in die alte SPD. Die meisten aus diesem Personenkreis verfügten über das, was schon die Sozialdemokratie vor 1933 ausgezeichnet hatte: organisatorische Fähigkeiten, Einsatzfreude, Belastbarkeit, Disziplin, Vernetzungskompetenz in Vereinen und Verbänden. Doch die Neugründer der Sozialdemokratie im Osten, bürgerliche Individualisten aus dem protestantischen Bereich, wollten mit den Sozialdemokraten aus der SED nichts zu schaffen haben – und trieben sie so in die PDS. Nicht zuletzt deshalb ist diese heute in den früheren Stammregionen der SPD so stark; deswegen liegt sie in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt vor den Sozialdemokraten. Ein rationales, emotionsloses Urteil zur Partei und Politik links von ihr fiel der Sozialdemokratie seit je erkennbar schwer. Entweder sie idealisierte die Gemeinsamkeiten oder sie übertrieb die Gegensätze. Am Ende aber waren die Sozialdemokraten stets selbst das Opfer von Einheitsillusionen hier und Abgrenzungsdämonien dort. Zu schlechter Letzt wurden so aus sozialdemokratischen Hochburgen in den Pionierregionen der deutschen Industrialisierung Diasporagebiete für die SPD.