Urbane Montagen

Die Metropole als Hauptdarsteller: Eine französische Enzyklopädie versammelt alle nur denkbar wissenswerten Informationen zur Wechselwirkung von Stadt und Kino

Das Autorenkollektiv beseelt die Idee, Stadt und Kino als ein Universum zu betrachten. Das wird auf den 900 Seiten und 200 Texten von 88 internationalen FilmkritikerInnen deutlich, die Thierry Jousse, Chefredakteur der Cahiers du cinéma, und Thierry Paquot, Philosophieprofessor und Herausgeber des Magazins Urbanisme, in ihrem Band „La ville au cinéma“ versammelt haben. Für Interessierte erweist sich der Klotz von einem Buch als genussreiches Lesemarathon, da die systematische Enzyklopädie con molto amore verfasst wurde und sich dabei zu einer wahren Fundgrube über das Wechselverhältnis von „Stadt und Kino“ auswuchs.

Beide Orte finden sich seit der Erfindung des Kinos Ende des 19. Jahrhunderts oft in einem vexierbildhaften oder spiegelbildlichen Bezug zueinander. Um 1900 war mit dem trottoir roulant, dem rollenden Bürgersteig, etwa das travelling der Filmkamera schon vorgegeben. Klassisch ist auch der moderne Dreiklang aus Licht, Bewegung und Geschwindigkeit, der die Metropolen und das Kino prägte. Montagen sind nicht alleine symbolische Filmtechniken. Auch als urbane, körperliche Erfahrungen schreiben sie sich ins kollektive (Un)Bewusste des Publikums ein. Dem Kino gelang es also nicht nur, Wahrnehmungserfahrungen der Stadt in seine Montagen zu integrieren, sondern umgekehrt auch den Blick auf die Metropolen zu verändern.

Etwas atemlos, dafür aber lang und detailreich geriet das Kapitel über Berlin. In der Frühzeit des Kinos, in den Jahren 1896–1918, erschien Berlin in 80 Filmen; im 20. Jahrhundert taucht die Stadt in 1.600 Filmen auf, davon alleine in der Weimarer Republik (1919–33) in einer Konzentration von 400. In Walter Ruttmanns „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ (1927) versuchen Fußgänger angestrengt beim Überqueren der Straße den Gefahren auszuweichen. Kino wird in diesem Kapitel vor allem als „Erinnerungsarchiv“ verstanden. Allein 55 cinematografische Städteporträts – Abidjan, Algier, Beirut, Buenos Aires, Istanbul, Kyoto, Liverpool, Lyon, Mexiko City, New York, Warschau, Ouagadougou, Peking, Hongkong, Taipeh usw. – sind im Buch enthalten. Ein breites Dossier untersucht überdies Auswirkungen von Flughäfen auf das Städtebild oder die Rolle von Straßen, Taxis, U-Bahnen, Hotels, Flüssen, Türmen, Ghettos, Nachbarschaften oder Terrorismus im Kino. Das Kapitel „die Prostituierte“ blickt auf Zelluloid-Mythen.

Außerdem sind Fragen zu Montagen, Filmmusik und Dekor erörtert. Unterschiedliche Genres (Realismus, Stummfilm, Film Noir, Science-Fiction, Western, Banlieue usw.) werden berücksichtigt. Daneben wurde ein Index mit zirka 4.000 Filmtiteln für das leichtere Nachschlagen eingearbeitet. Der breite Spannungsbogen der Texte will Neugierige, Cinéphile und professionelle Kinogänger erreichen.

Weil Kino nicht nur Zauber und Magie, sondern auch massenmediale Aufklärungsmaschine ist, hilft es Dynamiken schärfer wahrzunehmen oder metropolitane Nervositäten besser zu meistern. Soziale Konflikte, Entfremdung, Kriminalität, Katastrophen, Dysfunktionalitäten und (Psycho-)Krisen gehören zum Bild der Stadt, das im Kino in genuin metropolitanen Genres verarbeitet und wird.

Als Drehbuchschreiber hatte einst der Stadtplaner Rem Koolhaas begonnen. „Collage City“ hieß die Bilder-Montage des Architekturtheoretikers Colin Rowe. Fritz Lang schrieb mit „Metropolis“ expressionistische Stummfilmgeschichte. Jean-Luc Godards „Außer Atem“ zeigt den lyrisch-melancholischen Flirt von Jean Seberg und Belmondo in realen Pariser Schauplätzen Ende der 1950er-Jahre, ein Setting, das die Nouvelle Vague definierte. Aufgrund eines Technologieschubs, der Erfindung empfindlicheren Filmmaterials, war Godard mit „Alphaville“ 1965 so weit, allein aus Nachtaufnahmen der französischen Hauptstadt eine futuristische Stadt zu „bauen“. Den Aufwand eines teuren Fiction-Dekors benötigte er nicht.

Als der Regisseur Jacques Tati 1967 für „Play Time“ die riesige Kulissenstadt „Tativille“ aus Stahl, Glas und Beton hochzog, nahm seine Filmkomödie zwar das instabil Billige der Bauweise der Zeit und den Pariser Gastronomie-Nepp aufs Korn. Es gab aber kaum Lichtspielhäuser mit Breitwandleinwänden zum Abspielen des 70-mm-Opus. Obgleich der Film, dessen Hauptakteure US-amerikanische Touristinnen waren, eine Parodie des städtebaulichen Uniformismus war, blieb er fürs große Publikum stilistisch zu anspruchsvoll. Zumal der vertraute Monsieur Hulot in der Filmstruktur „dekonstruktiv“ verschwand. So wurde „Play Time“ ein finanzieller Flopp. Eindeutig trugen urbane Umwälzungen in der Metropole in Tatis Oscar-gekröntem Film „Mon Oncle“ (1958) zu unvergessenen Pointen bei. Der Film zeigt Paris von riesigen Baustellen zerfurcht. Mit seinem ewig rennenden Körper verbindet Hulot, Inkarnation aus Clown und Angestelltem, die damals noch idyllische Banlieue mit den Quartieren der Reichen. Die aktuellen Nachrichten aus den Banlieues zeigen, dass diese Verbindung schon lange gekappt ist. Gerade über dieses Szenario konnte man sich im zeitgenössischen französischen Film schon länger informieren.

GISLIND NABAKOWSKI

Thierry Jousse/Thierry Paquot: „La Ville Au Cinéma“. Edition de l’Étoile: Les Cahiers du cinéma, Paris 2005, 896 S., 156 Fotos, 60 €