Der naturidentische Aromatiker

Nicht „wer“, sondern „where“ ist Thomas Eller? So formuliert der Künstler, der für seine Fotoskulpturen den Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste bekommen hat, sein Leitmotiv – und beobachtet sich selbst in unterschiedlichen Bildkontexten

VON HENRIKE THOMSEN

Ein langes, scharfes Messer tranchiert die Eichel. Der Schnitt ist fast vollendet, eine Hand hält eine Pfanne unter den Penis, um das Blut aufzufangen. Der Arm, der Stiel, die Klinge – jedes Detail wirkt so dünn und gedehnt, als sei es vielleicht doch nichts weiter als ein Schatten, ein gedanklicher Pfad zu grausamen Möglichkeiten. Armin Meiwes hat diesen Pfad beschritten und wurde als „Kannibale von Rothenburg“ zur Projektionsfläche kollektiver Lust- und Gewaltfantasien. Der Künstler Thomas Eller macht mit „THE objectile (Wer isst Thomas Eller?)“ die ambivalente Beziehung zwischen dem Medienpublikum und dem Skandaltäter spielerisch erfahrbar.

Auch in einer anderen Sequenz der Fotoskulpturen-Serie scheint der Künstler selbst Hand an sich zu legen: Gedärm quillt aus seinem Bauch und bildet ein rot-violettes Stillleben am Rande des Gegenständlichen. Doch statt das Skandalöse zu forcieren, thematisiert Eller die Vielschichtigkeit von Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen, entlässt die Perspektive aus der Zwanghaftigkeit und ermöglicht eine größere Freiheit der Betrachtung.

Die Akademie der Künste hat Eller für seine Kunst den diesjährigen Käthe-Kollwitz-Preis zuerkannt. In der Laudatio würdigte der Leiter der Berlinischen Galerie, Jörn Merkert, die Arbeit des 42-Jährigen mit einem bemerkenswerten Vergleich: „Alles in Ellers Werken ist genauso künstlich wie ein Klon in der Naturwissenschaft oder genauso wirklich wie die künstlichen naturidentischen Aromastoffe in unserem Jogurt. Thomas Eller vereint auf überraschende Weise Kandinskys prägende Gegenpole der großen Abstraktion und großen Realistik.“

Tatsächlich erinnern die Installationen an Tatlins Konterreliefs und Alexander Calders Mobiles – auch wenn sie raumgreifender und robuster sind. Die Montage- und Assemblageverfahren der Surrealisten und Kubisten vereinen sich mit postmodernem Cut-up und performativem Oberflächenspiel. Die jüngste Arbeit „THE objectile (war) zipped“ wächst dem Betrachter wie eine Fata Morgana durch Raum und Zeit entgegen. Im Bildgrund liegt verfremdet ein toter Soldat samt Pferd, arrangiert nach einem Foto, das Eller bei einem alten Onkel fand. Aber auch kunsthistorische Reminiszenzen an Picassos „Guernica“ und den amerikanischen Abstrakten Expressionismus transportieren sich. Die Figur des Künstlers ragt als lotrechter weißer Schemen in den Raum hinein – inmitten eines Wirbels von Jagdbombern und zur Unkenntlichkeit entstellten Leichen von US-Soldaten.

„What's eating him?“, würde man in Ellers zweiter Heimat New York fragen. Was treibt ihn, was nagt an ihm außer dem üblichen künstlerischen Selbstvampirismus? Auf solche Fragen verschiebt Eller subtil die Perspektive: „Ich habe seit einiger Zeit die für mich zentrale Frage ‚Wer ist Thomas Eller?‘ mit ‚Where is Thomas Eller?‘ beantwortet. Die Frage nach dem Wesen wird in die Frage nach dem Ort umgedeutet. Identität ist keine Substanz an sich. Sie ist das, was man hat, wenn man sich bestimmten Dingen aussetzt.“

Um Identitätspolitik also geht es im weitesten Sinne, wenn sich Eller stellvertretend für den Betrachter in den Bildkontext einfügt und sich selbst im zeitgeschichtlichen und kulturellen Bezugsrahmen beobachtet. Dabei wird aber nicht zu einer expliziten Haltung aufgefordert – statt eines potenziell handelnden Subjekts entsteht eher eine unbeteiligte Präsenz. Im Vergleich zu den ruppigen Interventionen von Thomas Hirschhorn oder den beklemmenden Konfrontationen von Bruce Nauman schwächt und neutralisiert dies Ellers Arbeiten. Ihren vehementen Themen und der raffinierten ästhetischen Dynamik zum Trotz sind sie fast zu ausbalanciert, eingehegt durch eine Technik, die sich gleichzeitig aufdrängt und entzieht.

Vielleicht liegt es am hohen Grad der (Selbst-)Reflexivität, die dem religionswissenschaftlich, philosophisch, kunsthistorisch und soziologisch geschulten Eller eigen ist. Jedenfalls gibt es ein zwar verdecktes, aber doch massives Moment der Kontrolle in dem, was Merkert als „charadehaftes Rollenspiel“ des Künstlers schätzt: Als Abbild verortet sich Eller in fast jeder seiner Arbeiten, als Signet THE verzeichnet er sich im Werktitel und als Sam Rose schreibt er kritisch versierte Texte über Thomas Eller – zum Beispiel den Eingangstext zur Ausstellung. Und dann gibt es Eller noch als Chefredakteur des Internet-Magazins artnet, einer wichtigen Web-Plattform des Kunstmarkts, die nach eigenen Angaben Marktrends für über 4.000 Künstler darstellt, Auktionsberichte aus etwa 500 internationalen Auktionshäusern erfasst und 1.000 Galerien präsentiert.

„Ein Kunstwerk und ein Text entstehen aus ganz anderen Prozessen. Sie folgen unterschiedlichen kreativen Regeln, die aus dem Material kommen“, sagt Eller. Der Kunstkritiker, der 2005 im artnet-Magazin die Venedig-Biennale-Beiträge von Thomas Scheibitz und Tino Seghal zerpflückt, und der Künstler, der eher „ein Marktidiot“ sei, kämen sich nicht in die Quere. Offenbar ist es hier jemandem konsequent gelungen, seine Identität in den verschiedenen Diskursen aufzulösen und sich in ihnen jeweils neu zuzusetzen – als künstlicher naturidentischer Aromastoff.

Bis 21. Mai, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10