„Erlauben Sie, dass ich zu Klinsmann schweige“

Ror Wolf ist der wichtigste Nachkriegsschriftsteller, der über Fußball arbeitete. Hölzenbein schrieb er 1974 ins WM-Team. Mit Grabowski saß er in der Kabine. Warum er die WM 2006 für „Totaltheater“ hält und sein legendäres Tonmaterial vernichtet

INTERVIEW JUTTA HEESS

taz: Herr Wolf, Sie hatten sich vor Jahren vom Fußball verabschiedet, „den Fall für beendet“ erklärt. Nun gibt es doch Ihre elfte Fußball-Radiocollage. Warum?

Ror Wolf: Bereits 1979 – nach meiner letzten Radiocollage „Cordoba Juni 13 Uhr 45“ – hatte ich eigentlich die Nase voll. Ich habe einen allerletzten Text geschrieben: abschließende Worte zum Fußball und habe meine Rolle als Fußballpoet aufgegeben. Aber nun, anlässlich der Weltmeisterschaft, wollte der Bayerische Rundfunk die gesammelten Hörspiele, die ich in den 70er-Jahren gemacht habe, herausgeben – und eine neue Arbeit hinzufügen. Also war ich gezwungen, noch einmal in mein ziemlich umfangreiches Tonarchiv einzutauchen, das ich eigentlich nie mehr, nie mehr benutzen wollte. Inzwischen habe ich mich entschlossen, dieses Material – das Tonmaterial, nicht das Transkribierte – zu vernichten.

Wieso das?

Ich muss. Wo soll es hin? Ich werde mich nicht mehr damit beschäftigen. Ich könnte es zusammen mit meinem anderen Nachlass nach Marbach ins Deutsche Literaturarchiv geben, aber was sollen die damit machen? Ich habe sehr viel weiterzugeben, ich muss mich aus Platzgründen zwischen den einzelnen Teilen entscheiden.

Das ist sehr schade.

Mag sein. Mag auch sein, dass einige Radiomacher sich ganz gern dieses Materials bedienen würden. Viel Arbeit hätten sie damit nicht mehr. Die Digitalisierung war damals ja noch nicht üblich. Ich habe das alles mit der Schere gemacht, es war eine jahrelange Heidenarbeit, qualvoll. Heute geht das schneller. Ich möchte einfach einen Punkt setzen. Wenn andere dort weitermachen wollen, müssen sie sich ihr eigenes Material zusammensuchen. Wenn jemand meine unveröffentlichten poetischen Texte nehmen und sie als seine Arbeit verkaufen würde, wäre mir das auch nicht recht. Schon deshalb versuche ich in den nächsten Jahren so viel wie möglich fertig zu schreiben und zu veröffentlichen.

Sie haben in Ihren Radiocollagen Reporterkommentare, O-Töne, Stadiongeräusche zusammengefügt, sich also der Wirklichkeit bedient. Sie haben aber auch schon mal in die Wirklichkeit eingegriffen, während der WM 1974.

Nun ja, wenn wir die Sache nicht so ernst nehmen: Damals besuchte mich Eckhard Henscheid …

wie Sie Schriftsteller und Fußballliebhaber …

… und wir setzten uns hin und bastelten ein Interview für die FAZ zusammen. Wir waren beide Eintracht-Frankfurt-Fans und wollten unbedingt, dass nicht nur Grabowski, sondern auch Hölzenbein in der Nationalelf spielt. Wir haben versucht, das zu begründen. Und Hölzenbein ist tatsächlich in die Mannschaft gekommen. Er wäre natürlich auch ohne uns aufgelaufen. Aber da er schließlich den entscheidenden Elfmeter herausgeholt hat, waren wir der Ansicht, Wesentliches zum Gewinn der Weltmeisterschaft beigetragen zu haben. Fans sind eben so.

Wen würden Sie dieses Jahr ins Nationalteam hineinschreiben wollen?

Niemanden. Meine Beziehung zum Fußball hat sich abgenutzt. 1974, vorher und nachher, habe ich alle diese Aufnahmen für meine Hörspiele gemacht: beim Training, in Fanbussen, im Stadion, mit den Spielern in der Kabine, vor dem Spiel, in der Halbzeitpause. Das war ziemlich ungewöhnlich, das durfte eigentlich gar nicht sein.

Sie waren mittendrin.

Ich könnte heute natürlich eine sehr verbreitete Rolle übernehmen, ich könnte Tipps geben …

Statt in der FAZ in der taz.

… aber ich werde es nicht tun. Einen Spieler von Eintracht Frankfurt kann ich nicht empfehlen. Es fällt mir manchmal sogar schwer, herauszufinden, wer gerade wo spielt. Die Wechselfreudigkeit der Spieler ist enorm, das wissen wir. Bevor man sich an einen gewöhnt hat, ist er schon wieder bei einem anderen Verein. So genau bin ich nicht mehr informiert.

Aber zur Torwart-Frage haben Sie eine Meinung: Lehmann statt Kahn. Liegt Klinsmann richtig?

Jetzt sind Sie ganz genau. Oh, sehr knifflig. Ich vermeide es auch, mich festzulegen, wer Weltmeister wird …

Das würde ich Sie niemals fragen.

Wenn ich es sagen darf: Mir ist der eine so fremd wie der andere. Aber das Theater um diese Frage herum war und ist natürlich wichtig, das ist möglicherweise das Entscheidendste überhaupt. Man muss heute regulär 24 Stunden am Tag über Fußball reden, um die Weltmeisterschaft zu dem zu machen, was sie sein will: ein Total-Ereignis, ein Total-Event, ein Total-Theater. Ob Kahn oder Lehmann: Es ist mir ziemlich gleichgültig. Lehmann kenne ich kaum.

Was meinen Sie genau mit Total-Theater?

Im Total-Theater darf überhaupt keine Sekunde über den Vorgang geschwiegen werden, alles wird aufgepumpt, alles wird dauerhaft am Kochen gehalten, das Thema darf keinen Moment zur Ruhe kommen. Das langweilt mich inzwischen.

Ärgert Sie die Art des Kartenverkaufs?

Hier handelt es sich um eine Groteske. Aber das ist wohl nötig bei dieser Art von Inszenierung. Das führt bis zum endgültigen Ende, das vielleicht ganz schrecklich sein wird, weil die Deutschen gar nicht dabei sind. Weder Lehmann noch Kahn. Danach kommt die allgemeine Resignation. Das gehört auch zum Theater. Und das wage ich mal zu sagen: Es wird kein Wunder von Berlin geben, da lege ich mich fast fest. Und wenn ich mich irre, dann zahle ich eine Runde. 1974 war die WM auch ein großes Ereignis, aber man nannte es noch nicht Event, es gab auch nicht dieses durchgestylte Management, und im Stadion konnte man, wenn man wollte, ein Bier trinken.

Klinsmann passt da auch rein in das Eventhafte?

Erlauben Sie mir bitte, dass ich zu Klinsmann schweige.

Und auf dem Platz ist auch alles durchgestylt.

Jeder alte Fußballfan sagt: Es gibt keine Typen mehr wie früher. Das hat man allerdings Neunzehnhundertsoundso auch schon gesagt. Das wird man immer sagen. Die echten Typen sind immer von früher. Ich habe mal im Rahmen eines Fernsehgesprächs zur WM 1990 – zusammen mit dem Dichter Ludwig Harig und den Spielern Hans Tilkowski und Ente Lippens – die Äußerung gewagt, das Spiel sei schneller geworden. Darauf war Lippens, der ein hervorragender schneller Fußballer war und ein echter Typ, beleidigt. Ich meinte damit aber nicht, dass Fußball besser geworden wäre, sondern dass die Abläufe schneller geworden seien und dass man innerhalb dieses raschen Ablaufs kaum mehr solistisch arbeiten könne. Man hat die Aufgabe, den Ball sofort weiterzugeben. Dribblings, wie man sie im südamerikanischen Fußball, aber auch bei Grabowski und Libuda gesehen hat, fielen weg. Sie wurden austrainiert.

Warum?

Natürlich aus taktischen Gründen. Ich habe zu Jürgen Grabowski damals gesagt: Mensch, wir wollen deine Einlagen sehen. Und Grabi meinte: Wenn ich meine Einlagen bringe, meine Soli, kriege ich vom Trainer eins auf den Hut. Der sagt, lass das, gib den Ball ab. Das war Mitte der 70er-Jahre, ich erinnere mich gut. Damit ist eines dieser verrückten Zirkusphänomene, die den Fußball ja auch raffiniert machen, das spielerische Moment, etwas auf der Strecke geblieben. Die Schnelligkeit oder die Geschwindigkeit dagegen ist – zack, zack! – gewachsen.

Erschwert der moderne Fußball die kreative Beschäftigung mit dem Spiel?

Nicht unbedingt. Aber für mich ist die kreative Beschäftigung ja sowieso beendet.

Wie kamen Sie eigentlich zum Fußball, Herr Wolf?

Als Deutschland 1954 Weltmeister wurde, war ich auch ziemlich fröhlich, zwei, drei Stunden lang. Bei mir verflog das wieder, aber bei den anderen nicht. Das hat meine Neugier geweckt. Ich wollte wissen, was in den Leuten vorgeht, die sich noch Monate später über Rahns Tor unterhielten. Es war zunächst ein, sagen wir mal, ethnologisches Interesse am Fußball und ein sprachliches, weniger ein sportliches. Erst ein paar Jahre später wurde ich ganz tief hineingezogen und habe die Sache begriffen.

Sie waren damit der erste deutsche Schriftsteller, der sich mit Fußball beschäftigt hat.

Das wird zuweilen behauptet – egal ob es belächelt oder ernst genommen wird. Jedenfalls habe ich mich ziemlich ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Der Fußball nimmt jedoch in meinem Gesamtwerk allenfalls fünf Prozent ein, aber ich bin eben der „Fußballpoet“.

Klingt, als ob Sie das störte.

Es stört mich nicht, obwohl es manchmal wie eine kleine Verhöhnung klingt von Leuten, die von Fußball oder von Sport generell nichts halten. Ich habe in meiner Jugend ziemlich viel Sport getrieben, ich war Leichtathlet, ich habe Feldhandball gespielt, ich habe geboxt – das hat mein Selbstbewusstsein gestärkt. Ich wollte auch kein Stubenintellektueller sein.

Heute ist das Verhältnis Fußball–Intellektuelle makellos. Gebildete reden selbstverständlich über Fußball.

Das stimmt, ja, das beobachte ich seit ungefähr zwanzig Jahren. Das irritiert mich nicht, das bestätigt mich im Nachhinein. So hat man wenigstens in diesem Bereich etwas zuwege gebracht.

Sie können jedes Wochenende die Fans des Fußball-Bundesligisten Mainz 05 von Ihrer Wohnung aus im Stadion singen hören. Reißt Sie das ein wenig mit?

Ich interessiere mich für Mainz 05, weil mir die Jungs und der Trainer sympathisch sind. Aber ich habe nie Anstalten gemacht, mich ihnen zu nähern. Wobei wir ganz klar sehen müssen: Man kann im Leben 34-mal umziehen, von einer Stadt in die andere – aber wenn man sich einmal für eine Mannschaft entschieden hat, dann bleibt man dabei. Bei mir kommen die sehr persönlichen Erinnerungen mit Spielern dazu, mit Trainern, Kiebitzen, Fans. Die sind unvergesslich, zumal für einen abgetretenen Fußballpoeten. Fußball ist eben nicht nur ein Rasenspiel.

Sondern?

… sondern auch ein Spiel im Gefühlsgelände der Zuschauer und Zuhörer.