Die Diktatur der Familie

Wie steht es um das zeitgenössische türkische Kino? Das 25. Filmfestival Istanbul gewährt Einblicke in ein Filmschaffen, in dem Familienkonflikte eine große Rolle spielen: Das Gesetz der Väter bleibt in Kraft, den rebellischen Töchtern ergeht es schlecht

Kutlug Ataman zeigt uns die enge, weite Welt zweier Istanbuler Riot Girls

von HARALD FRICKE

Die Freude hielt sich in Grenzen. Kein Jubelfeuerwerk am Goldenen Horn, kein Autokorso auf dem Taksimplatz. Dass Istanbul letzte Woche als Kulturhauptstadt 2010 ausgewählt wurde, blieb eine Meldung unter vielen. Es klingt ja auch nicht eben verheißungsvoll: Wenn Europa feiert, ist die Türkei lediglich als Nicht-EU-Land dabei. So schreibt sich in der Kultur die Sprachregelung von der privilegierten Partnerschaft und dem damit verknüpften Sonderstatus fort. Umgekehrt arbeitet Istanbul für 2010 an einem Programm, das Aristoteles als Ideengeber zitiert und Europa „die eigenen Wurzeln entdecken“ helfen soll, wie es in einer Mitteilung des Bewerbungskomitees heißt. Das hört sich staatstragend an, auch nach einiger Unsicherheit – als müsse sich die Stadt ihre historische Wichtigkeit und Größe selbst beweisen.

Aber wozu dieser Aufwand, dieser erwartbare Budenzauber um Geistestraditionen und Identität? Wenn man während des 25. Istanbul Film Festivals von einem Kino zum nächsten eilt, dann sieht die Fußgängerzone im Kern der City fast wie in allen anderen Metropolen aus. Viel Starbucks Coffee, ein Adidas-Flagstore und etwas Pastellmode aus dem Hause Benetton; neben einer Moschee stellen zwei französische Künstler ihre Hommage an Gilles Deleuze in einem Projektraum aus. Mittlerweile sind es nicht bloß Markenprodukte, sondern auch die diskursiven Oberflächen, die einander weltweit ähnlicher werden. Das muss kein schlechtes Omen sein, schließlich ist man jenseits der angeblich tiefen politischen und religiösen Gräben zwischen Orient und Okzident über jeden gemeinsamen Nenner dankbar.

Der Wunsch nach wenigstens kulturell stabilen Verbindungen setzt sich in der Auswahl des Filmfestivals fort. Eine Retrospektive für Isabelle Huppert, eine Ehrung für Alain Delon; dazu der internationale Wettbewerb mit Filmen von Ali Mossaffa aus dem Iran, Christian Freis umsichtig recherchierter Dokumentation über die von den Taliban gesprengten Buddha-Statuen oder der unvermeidliche Michael Winterbottom, der mit „A Cock and Bull Story“ den Literaturwissenschaftsschmöker „Tristram Shandy“ aufgehübscht hat und prompt den Jurypreis gewann. Ansonsten stimmt die Quote durchaus mit den Anforderungen an ein A-Festival überein: keine Verbeugung vor Hollywood, keine nationale Nabelschau und keine Special-Interest-Nische. Von 116 europäischen Produktionen kommt ein erstaunlich hoher Anteil aus Ländern des ehemaligen Ostblocks, Nord- und Südamerika sind bei 40 Filmen ungefähr gleich stark präsent, selbst der Nahe Osten ist mit 14 Beiträgen vertreten.

Der Rest ist dem türkischen Kino vorbehalten. An drei Tagen wurden auf zwei Kinos verteilt Filme aus dem letzten Jahr gezeigt, darunter Cagan Irmaks Familienmelodram „Babam ve Oglum“ („Mein Vater und Sohn“), das immerhin vier Millionen Zuschauer hatte. Offenbar bietet das Politrührstück viel Identifikationspotenzial: In der Nacht des Militärputschs 1980 muss der linke Journalist Sadik zusehen, wie seine Frau bei der Geburt ihres Sohns verblutet; später wird er mit dem Kind von Istanbul aus zu seinen Eltern aufs Land fliehen. Doch Sadiks Vater hat dem Sohn nie verziehen, dass er sich in jungen Jahren den Kommunisten anschloss und nicht für den Bauernhof aufopferte. Erst in seiner Liebe zum Enkel weicht dem Alten das Herz auf, es wird auch viel geweint, so will es die Versöhnung der Generationen. Keine Frage, der Film ist schwere Gefühlsduselei, und für den Konflikt um politische Überzeugungen hat der 1970 geborene Regisseur nicht mehr als ein paar jähzornig dahingebrüllte Dialoge übrig. Am Ende zählt nichts als die wiederhergestellte Eintracht der Väter mit den Söhnen.

Auf die Familie ist Verlass, dieser Konstellation begegnet man derzeit in Filmen aus der Türkei häufiger. In Reha Erdems elegisch angelegtem Episodenfilm „5 Vakit“ („Fünf Zeiten“), der als bester nationaler Film ausgezeichnet wurde, träumt ein mürrischer Junge davon, den verhassten Vater umzubringen; doch als der Mann tatsächlich stirbt, stellt sich heraus, dass die Tötungsfantasien nur verdrängte Sehnsucht nach mehr Zuneigung waren. Anders als in „Mein Vater und Sohn“ kommt diese Wendung bei Erdem überraschend, als Paukenschlag der Psychologie. Zuvor war die Kamera durch karg in mildem Abendlicht schimmernde Berggegenden geglitten: Langsam geht die Welt zugrunde, wie in Filmen von Andrei Tarkowski oder Bela Tarr. Trotzdem stört irgendetwas an dieser scheinbaren Naturbelassenheit in „Fünf Zeiten“. Vielleicht ist es das wild urtümliche Setting, in dem knorrige Olivenbäume sich allzu gut mit den zerfurchten Gesichtern der Bauern ergänzen. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Film streng nach den fünf Gebetszeiten strukturiert ist und sich gut in die patriarchale Logik des Islam fügt – der Vater ist Imam, am Ende wird der Sohn an seiner Statt singen.

Am nächsten Morgen sitzt man dann in einer Dokumentation über Ehrenmorde und versteht das Unbehagen: Melek Taylan geht mit „Karanlikta Diyaloglar („Dialoge im Dunkeln“) einem halben Dutzend Fällen nach, in denen Frauen getötet wurden, weil sie sich nicht den steinzeitlichen Moralvorstellungen ihrer Familienclans unterworfen haben. Dabei führt der Weg nicht nur in die anatolische Hinterwelt, sondern auch in die Suburbs von Istanbul, wo die zugezogene Landbevölkerung auf der Suche nach Arbeit gestrandet ist und sich in der Perspektivlosigkeit erst recht in ihrem falschem Verständnis von Ehre und Glauben einkapselt. Was hier fehlt, ist eine konsequente Integrationspolitik, das sagt im Interview selbst der Beauftragte für Stadtentwicklung, der die Wohnsilos am Rand von Istanbul zu verantworten hat.

Die Folgen sieht man in Kutlug Atamans ungeschönt schönem Porträtfilm „Iki Genc Kiz“ („Zwei junge Frauen“), der die Geschichte einer Freundschaft zwischen Istanbuler Riot Girls erzählt. Während die eine nicht so enden will wie ihre Mutter und deshalb nach Australien ausbricht, wird die andere von ihrem Bruder mit Gewalt zurück in die Diktatur der Familie geholt, die in einem grauen Betonblock in Mahmutbey wohnt. Die Siedlung ist vom Flugzeug aus gut zu erkennen, das grün leuchtende Dach der dort neu erbauten Moschee auch.