Tschernobyl-Tote, wie es gerade gefällt
: KOMMENTAR VON MANFRED KRIENER

Die Würde der Opfer verlangt Aufrichtigkeit. Doch 20 Jahre nach der Reaktorexplosion wird mit den Toten von Tschernobyl jongliert, als ginge es um die Ziehung der Lottozahlen. 4.000, 9.000, 100.000 – oder darf’s ein bisschen mehr sein: über eine Million?

Niemand kann exakt sagen, wie viel Radioaktivität aus dem zerfetzten Reaktor in die Umwelt gelangt ist, wie sie sich verteilt hat, wie viel über welche Transfers in Lungen und Mägen gelangt ist und was sie dort genau anrichtet. Die Gier nach einer schicken Todeszahl bleibt unbefriedigt, das statistische Rauschen liegt über allen Rechenmodellen.

Saubere Wissenschaft müsste wegen der großen Unsicherheiten mit Bandbreiten operieren. Doch der offizielle UN-Bericht, der Ende 2005 herauskam und für sich beanspruchte, fundierte, quasi endgültige Zahlen zu liefern, sprach sehr direkt von 4.000 Toten. Die Zahl ging um die Welt. Sie beruht auf einer irrtümlichen Pressemitteilung, in der weitere 5.000 Tote „vergessen“ worden waren. Nur wer das Original gelesen hatte, wusste, dass der UN-Bericht in Wahrheit von 9.000 Toten ausging.

Dass auch diese Zahl am untersten Ende aller Schätzungen liegt, bestätigen Mitglieder der Strahlenschutzkommission, die sicher nicht zur Speerspitze der Anti-Atom-Bewegung gehören. Wer ein wenig anders rechnet, kommt schnell auf 100.000 Tote, heißt es unter SSK-Mitgliedern. Tatsächlich werden die Toten berechnet und nicht etwa aus Krebsstatistiken herausgelesen. Saubere Statistiken existieren nur in Ansätzen. Und die 800.000 „sowjetischen“ Liquidatoren, die 1986 nach Tschernobyl abkommandiert worden waren, leben heute in verschiedensten Nationalstaaten. Es gibt also viele objektive Gründe für die Unsicherheit aller Berechnungen.

Für den, der will, gibt es allerdings auch Fakten. Allein in der Ukraine erhalten 17.000 Familien staatliche Unterstützung, weil der Vater als Liquidator gestorben ist. 107.000 ukrainische Liquidatoren bekommen Frühinvaliden-Rente. Über 350.000 Menschen wurden umgesiedelt, 400.000 leben in Regionen „strikter Kontrolle“. Um Tschernobyl zu begreifen, gibt es genug aussagekräftige Zahlen.