Spuren von heimatlicher Bindung

Wie das Glück immer dann kommt, wenn man nicht darauf wartet: Das Geheimnis des Cinemascope von Bohdan Slámas „Die Jahreszeit des Glücks“

Das nordböhmische Most (deutsch: Brüx) war eine der größten Städte, die je dem Kohlebergbau geopfert wurden: Im Jahr 1964 war der vollständige Abriss der mehr als 700 Jahre alten Ansiedlung verfügt worden, die 30.000 Einwohner erhielten neue Unterkünfte in einer eilig aus dem Boden gestampften Betonsiedlung. Seine Identität hatte Most allerdings schon vorher durch schwere Kriegszerstörungen und die nachfolgende Aussiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung verloren. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie und der grassierenden Arbeitslosigkeit in den letzten fünfzehn Jahren scheint sich die Odyssee der Stadt weiter fortzusetzen.

Der Name Most steht heute wie kaum ein anderer als geografisches Synonym für Heimatlosigkeit und urbane Fehlentwicklung. Und ausgerechnet an diesem Unort lässt Bohdan Sláma seinen zweiten, im Original mit dem schlichten Wort „Stesti“ (= Glück) betitelten Film spielen.

Toník (Pavel Liska) ist Ende zwanzig und wohnt lieber bei seiner Tante in einem abrissreifen Bauernhaus im Schatten des Kraftwerks, als sich von seinen Eltern im Neubaublock schikanieren zu lassen. Bei der Schwester seines Vaters nisten Hühner in abgestellten Schrottwagen, an denen hin und wieder etwas unentschlossen herumgeschraubt wird, eine Flasche Bier immer in Reichweite. Das Regenwasser schlägt durchs brüchige Dach, die Ziegen nehmen immer wieder Teile des Hauses in Beschlag. Aber wenigstens gibt es hier noch Spuren von heimatlicher Bindung. Toníks große Liebe gilt Monika (Tatiana Vilhelmová), seiner schönen Freundin aus Tagen der Kindheit, die ihrerseits Toník recht nett findet, die verbleibende Zeit in Böhmen aber als bloße Phase des Übergangs versteht. Täglich wartet sie auf ein Flugticket aus den USA, mit dem sie der allgegenwärtigen Misere entfliehen und ihrem Freund über den Atlantik nachfolgen kann – eine typisch-vertrackte Konstellation also. Als Monikas Freundin Dása (Anna Geislerová) wegen ihrer unglücklichen Liebe zu einem windigen Baumarktleiter zusammenbricht und ihre beiden Söhne Dennis und Patrick ins Heim zu kommen drohen, entschließt sich Monika, die Obhut der Kinder zu übernehmen. Sie zieht mit ihnen ins marode Bauernhaus von Toník und seiner Tante. Für Momente erfüllt sich die Utopie eines harmonischen Zusammenlebens – allerdings sind alle Beteiligten viel zu beschäftigt, um diesen Augenblick des Glücks wahrzunehmen.

Bohdan Sláma erzählt seinen Film als Kaleidoskope beifällig abfolgender Ereignisse, verzichtet auf eine umständlichen Exposition, stößt die Zuschauer auf freundliche, doch nachdrückliche Weise mitten hinein in den nordböhmischen Kosmos der zwischenmenschlichen Vergeblichkeiten. Die sozialen Parameter werden präzise beschrieben, Primat haben stets konkrete Menschen, nie übergreifende Erklärungsmodelle. Formal spiegelt sich diese Perspektive in der optischen Nähe zu den Figuren, die zu einem nur scheinbaren Widerspruch zum ausladenden Cinemascope-Format stehen. Bisweilen erinnert Slámas Verfahren an das der Gebrüder Dardenne („Rosetta“) oder an das Bruno Dumonts („L’Humanité“), doch findet er zu völlig eigenständigen künstlerischen Lösungen. So wie einen das Glück immer dann anspringt, wenn man nicht darauf wartet, so überraschend bleibt der Umstand, dass der gleichnamige Film mit seiner ungewöhnlichen Methode auch kommerziell erfolgreich wurde. In Tschechien avancierte er zur meistbesuchten nationalen Produktion des vergangenen Jahres, anschließend konnte er zahlreiche internationale Preise auf sich ziehen. CLAUS LÖSER

„Die Jahreszeit des Glücks“. Regie: Bohdan Sláma. Mit Pavel Liska, Tatiana Vilhelmová u. a. Tschechien/Deutschland 2005, 102 Min.