Das äußerst flexible Subjekt

Wissen ist wie Tanz – schnelllebig und flüchtig. Der Kongress „Wissen in Bewegung“ sucht nach Vermittlung zwischen beidem. Der Tanz gerät dabei in eine ambivalente Position – Modell für Flexibilität und die Naturalisierung des Wissens zu sein

VON GABRIELE KLEIN

„Wissen in Bewegung“ ist der von der Kulturstiftung des Bundes initiierte Tänzerkongress in Berlin überschrieben. Er soll an die Tradition der großen Tänzerkongresse der 1920er-Jahre anknüpfen, und dies nicht ohne Grund. Wie damals herrscht im Tanz Aufbruchstimmung: Universitäten und Kunsthochschulen richten Professuren für Tanzwissenschaft und neue Studiengänge ein, Bildungs- und Kulturbehörden fördern, frei nach dem Film „Rhythm is it!“, Tanzprojekte in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Die Bundeskulturstiftung hat mit dem auf fünf Jahre angelegten Projekt „Tanzplan Deutschland“ ein markantes Statement für den zeitgenössischen Tanz abgegeben. Aufbruchstimmung also überall.

Doch die Euphorie kann nicht verdecken, dass die verstärkte Förderung aufgrund von spezifisch deutschen Defiziten nötig ist: im Vergleich zu den (west)europäischen Nachbarländern ist Deutschland das traurige Schlusslicht in der Unterstützung von zeitgenössischen Tanzkünstlern, der Aus- und Weiterbildung von Tänzern und Choreografen und der wissenschaftlichen Etablierung des Tanzes.

Aber verglichen mit den Zwanzigerjahren vollzieht sich die neue Tanzoffensive in einem anderen gesellschaftlichen Kontext. War der Ausdruckstanz der 1920er noch als bürgerliche Kritik an Technisierung, Fragmentierung und Entfremdung in der sich industrialisierenden Gesellschaft formuliert, so verortet sich der zeitgenössische Tanz in den Kontext des Übergangs zur Wissensgesellschaft. Entsprechend verändert hat sich tänzerische Selbstverständnis: Während der Ausdruckstanz die Rückkehr zur Natur und die organische Erfahrung des Körpers als gesellschaftliche Alternative postulierte, gibt sich der zeitgenössische Tanz selbstreflexiv. Er befragt mit Themen wie Präsenz und Repräsentation, Identität und kulturelle Differenz, Körper und Sprache nicht nur die Grundbedingungen des eigenen Mediums, sondern auch der modernen Gesellschaft und Kultur. So ist es stimmig, dass im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft bei dem Tänzerkongress 2006 das Thema Wissen auf der Agenda steht: Damit ist die Aufforderung formuliert, Tanz in den Kontext der aktuellen Debatte um den Ort des Wissens zu stellen und ihm einen Platz in politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Diskursen der Wissensgesellschaft zu erobern.

Bleibt die Frage, warum sich gerade in der Wissensgesellschaft der Tanz einer bislang unbekannten Aufmerksamkeit erfreut. Die Wissensgesellschaft ist eins der wirkmächtigsten Leitbilder der Gegenwart. Sie gehört zu einer Reihe von zeitdiagnostischen Gesellschaftskonzepten, die weder den Anspruch erheben, das Wesen von Gegenwartsgesellschaften zu bestimmen, noch in der Nachfolge von Marx und der Kritischen Theorie eine philosophisch inspirierte soziologische Gesellschaftstheorie vorlegen wollen.

Die Wissensgesellschaft ist ein soziologisches Konzept, das die enge Verbindung von Modernisierung und Technisierung hervorhebt. Demnach haben Informations- und Kommunikationstechnologien eine beschleunigte Wissensproduktion und globale Wissensverbreitung forciert und eine Transformation des Wissens befördert: Wissen in Wissensgesellschaften ist wie der Tanz schnelllebig und flüchtig. Es entsteht und verschwindet rasch. Zugleich werden nicht nur die Institutionen des Wissens, die Hochschulen, nach den Gütekriterien der Wissensgesellschaft wie Effizienzsteigerung und Verwertbarkeit umgebaut. Auch die Akteure selbst werden ummodelliert: Die Wissensgesellschaft befördert eine Subjektivität, bei der Flexibilität, Dynamik, Eigeninitiative, Selbstsorge, lebenslanges und selbst gesteuertes Lernen und das Ende der Normalerwerbsbiografie die zentralen Stichworte sind.

Wie der Tanz seine Produktionsbedingungen mit Verweis auf den Körper naturalisiert hat, wird die Wissensproduktion durch neue Wissensinhalte naturalisiert: Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, z. B. der auch in der Tanzforschung diskutierten Hirnforschung, stellen die wissenssoziologische Annahme einer grundlegenden Verwiesenheit des Wissens auf den sozialen Kontext in Frage, wollen sie doch grundlegende kognitive Prozesse auf der Basis der so genannten natürlichen, evolutionär gebildeten Eigenschaften der Menschen erklären. Die Konsequenz dieses Denkens, das Geist und Kultur in den Kontext naturwissenschaftlicher Konzepte stellt, ist es, Fähigkeiten zur Wissensproduktion und zum Wissenserwerb entweder als angeboren zu verstehen oder sie von den spezifischen kulturellen und sozialen Kontexten, das heißt, immer auch von Macht und Ungleichheit gänzlich unbeeinflusst erscheinen zu lassen. Aber: Wie Wissen überhaupt kann Tanzwissen nicht als angeboren oder nur als mentaler Zustand eines Subjekts gedacht werden, sondern lässt sich nur in einem Bezugsfeld von sozialen Praktiken thematisieren.

Wissensproduktion vollzieht sich keineswegs unabhängig von den Machttechnologien. Wer also nach dem Stellenwert, dem gesellschaftlichen Ort oder den Produktions- und Verbreitungsbedingungen von Tanzwissen fragt, thematisiert immer auch die Strukturen einer Gesellschaft, ihre Ideologien, Ziele und Leitbilder. Und diese sind auf Bewegung, Transformation und Flüchtigkeit ausgerichtet. Tanz ist hierfür eine geeignete Metapher. Umgekehrt symbolisiert die neue Aufmerksamkeit für den Tanz den Stellenwert des Tanzwissens in der Wissensgesellschaft. Und so wäre es auch verkürzt, das Kongressthema „Wissen in Bewegung“ nur auf Tanzwissen zu beziehen.

Dieses würde lediglich jenem Mythos über Tanz Vorschub leisten, demzufolge Tanz nur ein körperliches, flüchtiges und nichtkategoriales Wissen produziert. Diese Eigenschaften aber teilt der Tanz nicht nur mit der Musik, sondern auch mit jeder kurzen und flüchtigen Alltagssituation. Was also ist das Besondere des Tanzwissens? Und wie verhält es sich zur Wissensgesellschaft?

Für Tänzer ist Tanzwissen ein auf körperlicher Erfahrung basierendes Wissen, das sich intersubjektiv vermittelt: mehr ein narratives als ein diskursives Wissen. Die Narration erfolgt im Tanz nicht primär sprachlich, sondern über den Körper: Der Körper spricht nicht, sondern er zeigt. Dieses Zeigen als das Nichtidentische ist bisher im sprachdominierten Wissenschaftsdiskurs viel zu wenig ernst genommen worden.

Zwar entzieht sich das unmittelbar aus der Praxis gewonnene Körperwissen prinzipiell der unmittelbaren Verwertbarkeit. Es wäre aber zu einseitig, den Ort des Tanzes in der alles ökonomisierenden Wissensgesellschaft als Alternative und, mit Rekurs auf den Körper, als vermeintlich utopischen Ort der Erfahrung in der Moderne auszuweisen. Vielmehr ist der Tanz als eine Wissenskultur beschreibbar, in der sich die Ambivalenz der Moderne selbst deutlich zeigt: Tanz wirkt konservierend und transzendierend zugleich. Tanz bewahrt wissenskulturelle Tradition, indem über körperliche Erfahrung zwar praktisches, aber nicht unmittelbar ökonomisch verwertbares Wissen produziert wird. Und es transzendiert bestehendes Wissen. Das ist ein Wissen, das sich anders als das aus Bewegungserfahrung gewonnene Wissen über diskursive Strategien der Überprüfung und des Nachvollzugs legitimiert. Tanzwissen ist immer auch Wissenschaftskritik insofern, als es sich gegen ein Wissen wendet, das dynamische Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht. Nicht zufällig erfährt der Tanz in der Wissenschaft vor allem dort eine besondere Beachtung, wo es, wie in Körper- und Performanztheorien, um das Praktischwerden des Kulturellen und Sozialen geht.

Anderseits leistet Tanzwissen auch einer Naturalisierung des Wissens Vorschub. Denn zum einen stößt die Naturalisierung des Wissens hier auf eine starke Tradition, hat sich doch der Tanz der Moderne als Medium verstanden, in dem sich das von Technisierung und Entfremdung bedrohte Subjekt über Körper und Bewegung als vermeintlicher Garant des Echten, Wahren und Authentischen seiner selbst vergewissern kann. Zum anderen zeigt sich Tanz auch empfänglich für neue Formen der Naturalisierung, die, durch Erkenntnisse der Hirnforschung und Neurophysiologie forciert, Wissensproduktion unmittelbar an Körperstrukturen binden.

Dass gerade Tanzakteure dazu neigen, Wissensproduktion vom gesellschaftlichen und politischen Kontext abgelöst zu betrachten, verwundert vor allem deshalb, weil Tanz wie kaum ein anderes kulturelles und künstlerisches Feld bislang so wenig öffentliche Unterstützung erhalten hat. Der neoliberale Topos der Selbstsorge und Selbstverantwortung ist im Feld des Tanzes längst alltägliche Praxis. Ebenso hat die Figur des flexiblen, auf sich selbst geworfenen Subjekts, das mehrere Berufe ausführen wird, in dem freischaffenden Tänzer bereits seinen Prototypen gefunden. Nicht wenige Tänzer wissen bereits mit Mitte dreißig, dass ihr künstlerisches Dasein sich dem Ende neigt und sie mehrere Berufe ausführen werden. Von Normalerwerbsbiografie ist hier keine Rede. Insofern unterstützt der Tanz die modernisierungseuphorische Interpretation des Wandels zur Wissensgesellschaft, die dieser eine Chance für eine neue Sprache, neue wirtschaftliche Strukturen und neue, flexible Handlungskompetenzen der Subjekte zuschreibt. Es wird eine große Aufgabe der Zukunft sein, diese Ambivalenzen des Tanzes aufzudecken, um dann seine darüber hinausweisende gesellschaftliche und kulturpolitische Bedeutung und Kraft ausfindig zu machen. Der Kongress „Wissen in Bewegung“ liefert hierfür eine gute Ausgangslage.

Gabriele Klein, Soziologin und Tanzwissenschaftlerin, ist Professorin an der Universität Hamburg. Der Text ist ein Ausschnitt ihres Vortrags im Rahmen des Tanzkongresses „Tanz in der Wissensgesellschaft“