Peking will am liebsten die Blaupausen

China hat derzeit neun Atomkraftwerke. Sie decken nur zwei Prozent des Elektrizitätsbedarfs des Landes

PEKING taz ■ Im Jahr 1985 vergab China den Auftrag für das erste, mit ausländischer Technologie gebaute Atomkraftwerk im Land. Heute laufen neun Reaktoren, acht davon mit westlicher Technik. Sie decken 2 Prozent des Elektrizitätsbedarfs des Landes. Von einer auch noch so kleinen Panne im chinesischen Atombetrieb ist nichts bekannt. Doch muss nicht gerade das Misstrauen erregen? „Vielleicht ist in China schon ein Atomunfall passiert, aber wir wissen nichts davon“, sagt der Pariser Energieexperte Mycle Schneider.

Der langjährige AKW-Kritiker verweist auf die Erfahrungen von Tschernobyl. Die Geschichte der Atomkraft habe gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit von Sicherheitsproblemen umso höher sei, je weniger transparent und demokratisch interne Anlagenkontrolle und öffentliche Überwachung seien. Dies sollte auch den Regierungen in Berlin und Washington zu denken geben, die den Atomexport nach China mit Bürgschaften unterstützen. Denn wer Atomtechnik an China verkauft, muss sie an einen Kontroll- und Sicherheitsapparat übergeben, der von Transparenz nichts wissen will. Beispiele dafür, wie Peking Katastrophen verheimlicht, gibt es zuhauf – etwa die jüngste Chemieexplosion, die das Trinkwasser von Millionen Menschen verseuchte.

Gleichwohl können der deutsch- französische Areva-Konzern oder die von Toshiba kontrollierte Westinghouse-Gruppe heute ungestört um einen 8-Milliarden-Dollar-Auftrag für den Bau von vier weiteren Reaktoren in China feilschen. Als US-Unternehmen war es Westinghouse bis 2004 aus militärischen Gründen verboten, seine Reaktoren nach China zu liefern. Jetzt aber gehen Industrielle davon aus, dass Peking dieser Firma den Zuschlag gibt.

All dies hat weltweit Euphorie angesichts einer Renaissance der Atomindustrie in China ausgelöst. Die westliche Atomlobby übernimmt derzeit eins zu eins die Planungen der Pekinger Behörden, wonach China bis 2020 eine Atomstromleistung von 40.000 Megawatt installieren will. Doch weist ein neuer Forschungsbericht von Schneider, Lutz Mez (FU Berlin) und Steve Thomas (University of Greenwich) den Pekinger Plan als „wilde Spekulation“ zurück.

Nach diesen Plänen müsste China bis 2010 angesichts der langen Ausschreibungsdauer 20 neue Reaktoren in Auftrag geben. Solche Massenaufträge aber widersprächen seiner langjährigen Politik, statt Reaktoren Technologie einzukaufen. Seit 1985 kaufte Peking je zwei britisch-französische, französische, kanadische und russische Reaktoren. Jetzt sollen vier amerikanische folgen – alles, um Blaupausen für die Entwicklung einer eigenen Reaktorlinie zu bekommen. Von deren industrieller Serienreife aber spricht in China noch niemand. Die chinesische AKW-Renaissance findet vorerst nicht statt. GEORG BLUME