Schneller brüten

In Russland sollen ab 2012 jedes Jahr zwei neue Atomreaktoren gebaut werden, für den schnellen Brüter BN-800 gib es schon in diesem Jahr Geld aus dem Staatshaushalt

Um leistungsfähiger zu werden, soll der gesamte Nuklearbereich jetzt privatisiert werden

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Der erste sowjetische 5-Megawatt Reaktor ging im Juni 1954 in Obninsk, einer Kleinstadt in der Nähe Moskaus, ans Netz. Neun Jahre nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Die friedliche Nutzung der Atomenergie war ein technologischer Sieg der UdSSR im Kalten Krieg mit den USA. Seither ist Atomtechnik nicht nur Hätschelkind des Staates, sondern auch Gegenstand nationalen Stolzes. Daran änderte auch der Reaktorunfall in Tschernobyl wenig. Einheimische Atomphysiker sind überzeugt, dass die nukleare Infrastruktur Russlands im zivilen und militärischen Bereich zu den entwickeltsten der Welt zählt.

Jüngsten westlichen Zweifeln daran, dass Russland unter den führenden G-8-Industriestaaten überhaupt ein fester Platz gebühre, trat Präsident Wladimir Putin denn auch mit einem Verweis auf die nukleare Leistungsfähigkeit entgegen: Ohne die größte Nuklearmacht der Welt seien die Probleme internationaler Atomsicherheit nicht zu lösen, meinte der Kremlchef, der im Juli den G-8-Gipfel ausrichtete, dessen zentrales Thema die globale Energiesicherheit sein wird.

Nach offiziellen Angaben entfallen 16 Prozent der russischen Stromerzeugung auf Kernenergie. Moskau will den Anteil in den nächsten 15 Jahren auf 25 Prozent steigern. Ab 2012 plant die föderale Atombehörde „Rosatom“ den Bau von vierzig neuen Reaktoren. Jedes Jahr sollen zwei Blöcke ans Netz gehen. Sergei Kirijenko, Chef der Atombehörde, bezifferte die anfallenden Investitionen auf 50 Milliarden Euro. In der Gesamtbilanz des russischen Energieverbrauchs schlägt Kernenergie jedoch nur mit 4 Prozent zu Buche, was auf einen hohen Brennstoffbedarf im Transportwesen und in der Wärmeversorgung zurückzuführen ist.

Moskaus Atomlobby frohlockt angesichts der neuen Pläne: „Im Vergleich zu Kohle und anderen Energieträgern ist Atomenergie sicherer“, behauptet Wladimir Orlow von PIR, einem Thinktank im Umfeld der Atomwirtschaft. Inzwischen seien die fortgeschrittenen Technologien gegen Proliferation auch ziemlich resistent, meint Orlow.

Von einer weltweiten Atom-Renaissance verspricht sich Rosatom gute Geschäfte. Um leistungsfähiger zu werden, soll der gesamte Nuklearbereich privatisiert und in Aktiengesellschaften überführt werden mit dem Staat als Alleinaktionär. Obwohl die Atomkraftwerke Staatseigentum wären, ließe dies ein gewinnorientiertes Management zu, glaubt der Vorsitzende des Duma-Komitees für Transport, Kommunikation und Atomtechnik, Wiktor Opekunow.

Vorgesehen sind drei Holdings: Die erste bilden AKW-Betreiber, die zweite umfasst die Minen und Urananreicherung, die dritte beinhaltet Produktionsgüter und Technik des Nuklearsektors. Bislang waren die Bereiche auf mehrere GUS-Staaten verteilt. Urangewinnung fand in der UdSSR in Kasachstan und Usbekistan statt, automatisierte Kontrollsysteme, Pumpen und Turbinen stellte die Ukraine her. Seine Aufgabe sei es, den Komplex unter Marktbedingungen wieder zu beleben, meinte Sergei Kirijenko. In Anlehnung an den staatseigenen Gasgiganten Gazprom dürfte nach der Restrukturierung ein nukleares „Atomprom“ entstehen.

Auf eine technologische Innovation aus seinem Haus hofft Kirijenko schon in den nächsten Jahren. Für den schnellen Brüter BN-800 wurden im diesjährigen Haushalt bereits Gelder bereitgestellt. 1,2 Milliarden Euro kostet das Projekt des Neutronenbrüters, der im AKW Belojarskaja im Ural verwirklicht werden soll. Im Wernadsky Institut für Geochemie träumen Experten unterdessen schon von einer ganz neuen Generation thermonuklearer Energiegewinnung: „Helium-3 ist die einzige Quelle nuklearer Energie, die keine radioaktiven Abfälle produziert“, erläutert Institutsleiter Erik Galimow. Ein Nachteil besteht allerdings. Helium-3-Ressourcen auf der Erde sind begrenzt, größere Vorkommen lagern auf dem Mond. Auch das sei kein Problem, meint das Moskauer Raumfahrtunternehmen Energija: 2015 könnte Russland bereits eine erste Basis auf dem Mond eröffnen und fünf Jahre später mit der industriellen Gewinnung des Helium-3-Isotops beginnen. „Wer den Heliumabbau zuerst meistert, gewinnt das Rennen um die weltweite Führung im Energiebereich“, meint Energija-Direktor Nikolai Sewastjanow.

Den Energieexperten Wladimir Tschuprow beunruhigt besonders die Kernkraft-Renaissance in Russland. Russische AKWs gehen wesentlicher laxer mit Sicherheitsstandards um als westliche AKW-Betreiber, meint der Leiter der Abteilung Kernenergie bei Greenpeace Moskau. Grundsätzlich sei in Russland das Risiko durch potenzielle terroristische Bedrohungen in den letzten Jahren nochmals gestiegen.

Zweifel hegen die Atomexperten auch an den günstigeren Produktionskosten. Bei der offiziellen Berechnung des Atomstroms durch Rosatom fließt eine ganze Reihe von Faktoren nicht in die Kostenkalkulation mit ein. Staatliche Subventionen, internationale Hilfen, Lagerungskosten, Sicherheitsmaßnahmen oder zusätzliche Sozialleistungen für AKW-Angestellte tauchen in der Preiskalkulation gar nicht erst auf. Tschuprow vermutet, dass bis zu 40 Prozent der Aufwendungen und Fremdzuschüsse nicht im Preis enthalten sind. Allein bis 2010 erhält Russlands Atomsektor Zuwendungen von mindestens 5 Milliarden Dollar. Stillgelegte AKW-Blöcke müssen überdies erst in hundert Jahren entsorgt werden. Auch diese Kosten werden unterschlagen und nachfolgenden Generationen aufgebürdet.